Bitte beachten ( Copyrightrechte
Dieser Text stammt nicht von mir , sondern ist aus der Spiegelausgabe Nr.29/15.07.02 S. 132 bis S.138! Die Copryight recht liegen beim Spiegel bzw. der Autorin! Bitte bei Kopie/Auszüge aus dem Text usw. bitte an den Spiegel wenden!
Da habe ich geschrien
Manche wollen sterben, andere ersticken fast an ihrer Wut. Seelisch krank werden kann man in den scheinbar besten Familien. Behandelt werden solche Fälle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Tiefenbrunn, von der viele Patienten sagen: „Das ist meine letzte Chance. von Barbara Supp
Er raucht und singt und zupft die Saiten seiner Gitarre, auf dem Arm zuckt eine tätowierte Spinne, und dann sind da noch ein paar Narben auf seiner Haut, wie von Schnitten ins Fleisch. Es ist ein leises, melodisches Lied, das Joey* singt, es geht so: „Wir verlassen eure Welt, weil sie uns nicht mehr gefällt, denn wir sind suizidal, und was aus euch wird ist uns scheißegal.
Joey ist 16 und Kind aus gutem Hause, Pädagogensohn, und weiß sein halbes Leben schon, warum es ihm dreckig geht, nur seine Eltern wussten es lange nicht. Wussten nur, dass der Junge dauernd so aggressiv war, und Stress in der Schule gab es auch. Die Lehrer mochten es nicht, dass sich Joey im Unterricht Tätowierungen in die Haut stach, Anti-Nazi-Sprüche und diese Riesenspinne, und dann griff er auch noch einen Pädagogen an. Es reicht, fand das Kollegium, der Junge gehört in eine Therapie. Da war er 14
Damals hat er zum ersten Mal seinen Eltern etwas von diesem Typen erzählt. Ein bisschen hat er erzählt. Sehr wenig eigentlich. Weil seine Eltern genug eigene Sorgen hatten, weil das vor allem für seine Mutter, fand er, viel zu belastend war.
So genau sollten sie es nicht wissen, was in den hässlichen zwei Jahren geschah, mit diesem Typen, der erst ein väterlicher Freund war und dann nicht mehr, dann missbrauchte er den achtjährigen Jungen, und immer wieder sagte er: „Wenn du nicht den Mund hältst, bring ich dich und deine Familie um. Also schwieg Joey, jahrelang. An seine Wut hat er sich gewöhnt. Sie ist ein ständiger Begleiter geworden, mal leise schmorend, mal lodernd und laut. So wie vor ein paar Monaten, als er auf der Straße lebte und einem Fremden begegnete, der hatte Kinderpornos im Angebot. Er sei ausgerastet, sagt Joey, sehr sachlich sagt er das. Er habe ihn verprügelt, „und ich weiß nicht, ob der schon wieder laufen kann.
Sie ist so vertraut, diese Wut, und wärmend auch. Kann es sein, dass es ein Leben gibt ohne sie? Dass man sich sagt: Das ist Vergangenheit? Das ist vorbei. Er hockt da mit Jakob, dem Schmalen, Dunklen, der gern Schminke im Gesicht trägt, und mit Laura, die meistens mürrisch dreinschaut, aber wenn sie Musik hört, dann wird ihr Blick weich. „Waldhaus" heißt der Flachbau, auf dessen Treppen die drei sich zusammendrücken. Es ist die Jugendstation des Krankenhauses für Psychotherapie in Göttingen-Tiefenbrunn.
Es ist Montag, oben im ersten Stock sitzen Ärzte, Therapeuten, Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter zusammen und sprechen ihre Patienten durch, wie war das Wochenende? Wem geht's besonders schlecht? 2o Betten für Jugendliche haben sie im "Waldhaus" und 14 drüben in der Kinderstation "Rosenvilla", und wer hierher kommt, hat oft schon mancherlei Therapieversuche hinter sich. Immer wieder sagt jemand diesen hoffnungslosen, hoffnungsvollen Satz: "Das ist meine letzte Chance." Es kommen die mit den Zwangs- oder Angststörungen, die mit den lähmenden Depressionen. Es kommen diejenigen, die sich den Körper blutig schneiden, weil sie körperliche Schmerzen erträglicher finden als seelische. Es kommen die Lebensmüden. Die Aggressiven. Die mit der stillen, zerstörerischen Wut.
Sie haben auf einen Platz gewartet, oft monatelang. Es werden immer mehr, die auf Hilfe warten; vielleicht gibt es mehr seelische Not als früher, vielleicht wurde sie früher nur häufiger übersehen. Jedes fünfte Kind sei betroffen, schätzt eine Studie der Universität Hamburg; genau wissen kann man es nicht. Aber dass man überall psychisch krank werden kann, auch in den scheinbar besten Familien, hat der Erfurter Amoklauf der Offentlichkeit schockierend deutlich gezeigt. Die Praktiker aber wussten es längst. Viele der Tiefenbrunner Patienten sind Kinder von Lehrern, Pfarrern, Professoren; von Mittelstandseltern, bei denen lange nach außen hin alles in Ordnung scheint. Von Familien, bei denen nicht jeder sogleich denkt: Da stimmt etwas nicht.
Und dann stimmt da gar nichts, nur manchmal dauert es jahrelang, bis es jemand merkt. Joey hat ein neues Lied geschrieben, "Kinderficker, ich jage dich, Kinderficker, ich kriege dich, bis du tot vor mir zusammenbrichst". Er sagt: "So etwas hilft." Der Boxsack hilft auch, der im Sportraum hängt; da hat er neulich eine gute Stunde lang draufgedroschen, "dann hat's Knacks gemacht, aber ich hab weitergeboxt. Jetzt darf ich nicht mehr." Er wackelt an seinem Handgelenk, es knackt, und dann mischt sich Jakob ein, der schmale, dunkle Geschminkte. "Gedichte, interessiert Sie so was? Lesen Sie mal." Ein schwarzes Schulheft, gefüllt mit gestochen scharfer Schrift.
"Alte, verwitterte Steine mit Namen, auf denen der meine noch fehlt ... Das Gras unter meinen Füßen trägt euer Blut in sich ... Noch trägt kein Grabmal meinen Namen. Noch liege ich über euch, die ihr in ersehnter Ruhe, frei von Liebe und Hass seid. Ich beneide euch."
Manche Wörter sind verwischt und schwer zu lesen, weil so viel Blut darauf getropft ist und auf zerknülltem Papier eine befleckte Rasierklinge klebt. Auf der letzten beschriebenen Seite verrutscht die Schrift in unleserliches Gekrakel, quer über das Blatt. Kein klarer Kopf hat das geschrieben, sondern einer, der auf die andere Seite gewechselt hat. Dorthin, wo es keinen Halt mehr gibt. Kann man so jemand zurückholen? "Man kann", sagt eine entschieden bli ckende Frau von etwa 5o Jahren, "es ist möglich", versichert sie.
Annette Streeck-Fischer ist die Chefärztin der Tiefenbrunner Kinder- und Jugendabteilung, seit gut 18 Jahren, und sie reagiert nicht mehr so schockiert auf solche Dinge wie andere Leute. Weil sie lange schon, und immer wieder neu, nach Antworten auf diese Frage sucht: Was muss passiert sein, damit ein Kind nicht mehr leben will? Oder nur noch so, dass es sich oder andere zerstört? Ihre Klinik hat einen Ruf, besonders im Umgang mit traumatisierten Jugendlichen, weil man hier manchmal noch helfen kann,wo andere Versuche vergebens waren. Und weil sie ein bisschen anders ist als die übliehen Kliniken, weil sie nicht aussieht wie eine Psychiatrie, eher wie ein Internat oder ein Schullandheim - ein weites Gelände im Grünen, parkähnlich, mit offenen Türen. Sie vertraue, sagt Streeck-Fischer, auf ein mühsames, anstrengendes Prinzip: "Freiwilligkeit. Kooperation". Aber geht das? Mitbestimmung, wenn jemand sehr jung und psychisch sehr krank ist - kann das funktionieren? Man sitzt da mit Joey und hört seine Selbstmord-Songs; man grübelt über Jakob, der sich verzogen hat, weil er im Moment niemand sehen will, man schreckt davor zurück, mit Laura zu reden, weil sie so finster blickt.
Und dann trifft man Silke, klein, dünn, zappelig und neun Jahre alt, und auch Silke, so ist zu hören, sei freiwillig da. Weil sie es mit sich selbst nicht aushielt, und mit ihrer Wut. Und weil sie wissen wollte, wer sie war. ich mit der Mama besser klarkomme. Und nicht mehr so viele Sachen zerschneide." Silke ist das Kind einer psychisch kranken Mutter, die nicht für sie sorgen kann. Sie wurde Adoptivkind einer Adoptivmutter, die ein ordentliches Zuhause für sie schuf. Ein sehr ordentliches. Und die ziemlich verstört war, als sie in diesem Zuhause dauernd kaputte Sachen fand, und es konnte nur Silke gewesen sein. Auch in der Schule lief es schlecht. "Ritalin", sagten die Ärzte, "ein hyperaktives Kind", aber das half nichts, und als Silke in die Rosenvilla zog, setzte der dort zuständige Arzt das Medikament zügig ab. Sie hat Fortschritte gemacht. Sie war erst in der Klinikklasse, besucht jetzt eine normale Schule draußen, sie war schon zu Kindergeburtstagen eingeladen, es läuft gut.
Sie zerstört nicht mehr so viele Dinge auf der Station, und einmal, das hat sie selbst voller Stolz erzählt, war sie wieder mal wütend und wollte ein Kissen zerschnippeln, als sie eine andere Lösung fand: "Da hab ich geschrien." Die Mitarbeiter begrüßen das. Allerdings, berichtet ihre Psychotherapeutin, findet sie neuerdings immer wieder Kratzer in ihrem Auto - vor allem dann, wenn sie mit Silke in der Therapie unterschiedlicher Meinung war. Silke soll nicht kratzen. Sie soll sagen, was sie wütend macht. "Sie machen sehr viele Fehler", schrieb Silke der Therapeutin an die Tafel. "Das meine ich ernst." Sie hat "Wiedervorstellung" an diesem Tag, das heißt, man wird beschließen, ob sie bald nach Hause fährt oder nicht. Im Büro der Chefärztin sitzen ihre Ärzte und Betreuer und Therapeuten zusammen, und man will von Silke wissen, was sie darüber denkt. Sie hat sich auf ihrem Stuhl an die Lehne gedrückt, sie hat den Platz neben der Chefärztin, sie hört deren Fragen, sie blickt nach unten und knetet den Plüschbären auf dem Schoß.
"Hast du das erreicht, was du wolltest?" "Ja.` "Was denn?" "Dass ich nicht so viele Sachen kaputt mache." "Geht das?" "Ja. Einmal." "Das könnte öfter passieren, oder?" "Weiß nicht." "Kann es sein, dass du manchmal nicht sagen kannst, was dich wütend macht?" "Hmm." "Ich fände es wichtig, dass du noch ein bisschen bleibst", sagt die Chefärztin. "Und du?" Silke sagt nichts. Sie knetet ihren Bären. Will sie nach Hause? Sie neigt den Kopf, zu einem halben Nicken.
Dieser Text stammt nicht von mir , sondern ist aus der Spiegelausgabe Nr.29/15.07.02 S. 132 bis S.138! Die Copryight recht liegen beim Spiegel bzw. der Autorin! Bitte bei Kopie/Auszüge aus dem Text usw. bitte an den Spiegel wenden!
Da habe ich geschrien
Manche wollen sterben, andere ersticken fast an ihrer Wut. Seelisch krank werden kann man in den scheinbar besten Familien. Behandelt werden solche Fälle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Tiefenbrunn, von der viele Patienten sagen: „Das ist meine letzte Chance. von Barbara Supp
Er raucht und singt und zupft die Saiten seiner Gitarre, auf dem Arm zuckt eine tätowierte Spinne, und dann sind da noch ein paar Narben auf seiner Haut, wie von Schnitten ins Fleisch. Es ist ein leises, melodisches Lied, das Joey* singt, es geht so: „Wir verlassen eure Welt, weil sie uns nicht mehr gefällt, denn wir sind suizidal, und was aus euch wird ist uns scheißegal.
Joey ist 16 und Kind aus gutem Hause, Pädagogensohn, und weiß sein halbes Leben schon, warum es ihm dreckig geht, nur seine Eltern wussten es lange nicht. Wussten nur, dass der Junge dauernd so aggressiv war, und Stress in der Schule gab es auch. Die Lehrer mochten es nicht, dass sich Joey im Unterricht Tätowierungen in die Haut stach, Anti-Nazi-Sprüche und diese Riesenspinne, und dann griff er auch noch einen Pädagogen an. Es reicht, fand das Kollegium, der Junge gehört in eine Therapie. Da war er 14
Damals hat er zum ersten Mal seinen Eltern etwas von diesem Typen erzählt. Ein bisschen hat er erzählt. Sehr wenig eigentlich. Weil seine Eltern genug eigene Sorgen hatten, weil das vor allem für seine Mutter, fand er, viel zu belastend war.
So genau sollten sie es nicht wissen, was in den hässlichen zwei Jahren geschah, mit diesem Typen, der erst ein väterlicher Freund war und dann nicht mehr, dann missbrauchte er den achtjährigen Jungen, und immer wieder sagte er: „Wenn du nicht den Mund hältst, bring ich dich und deine Familie um. Also schwieg Joey, jahrelang. An seine Wut hat er sich gewöhnt. Sie ist ein ständiger Begleiter geworden, mal leise schmorend, mal lodernd und laut. So wie vor ein paar Monaten, als er auf der Straße lebte und einem Fremden begegnete, der hatte Kinderpornos im Angebot. Er sei ausgerastet, sagt Joey, sehr sachlich sagt er das. Er habe ihn verprügelt, „und ich weiß nicht, ob der schon wieder laufen kann.
Sie ist so vertraut, diese Wut, und wärmend auch. Kann es sein, dass es ein Leben gibt ohne sie? Dass man sich sagt: Das ist Vergangenheit? Das ist vorbei. Er hockt da mit Jakob, dem Schmalen, Dunklen, der gern Schminke im Gesicht trägt, und mit Laura, die meistens mürrisch dreinschaut, aber wenn sie Musik hört, dann wird ihr Blick weich. „Waldhaus" heißt der Flachbau, auf dessen Treppen die drei sich zusammendrücken. Es ist die Jugendstation des Krankenhauses für Psychotherapie in Göttingen-Tiefenbrunn.
Es ist Montag, oben im ersten Stock sitzen Ärzte, Therapeuten, Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter zusammen und sprechen ihre Patienten durch, wie war das Wochenende? Wem geht's besonders schlecht? 2o Betten für Jugendliche haben sie im "Waldhaus" und 14 drüben in der Kinderstation "Rosenvilla", und wer hierher kommt, hat oft schon mancherlei Therapieversuche hinter sich. Immer wieder sagt jemand diesen hoffnungslosen, hoffnungsvollen Satz: "Das ist meine letzte Chance." Es kommen die mit den Zwangs- oder Angststörungen, die mit den lähmenden Depressionen. Es kommen diejenigen, die sich den Körper blutig schneiden, weil sie körperliche Schmerzen erträglicher finden als seelische. Es kommen die Lebensmüden. Die Aggressiven. Die mit der stillen, zerstörerischen Wut.
Sie haben auf einen Platz gewartet, oft monatelang. Es werden immer mehr, die auf Hilfe warten; vielleicht gibt es mehr seelische Not als früher, vielleicht wurde sie früher nur häufiger übersehen. Jedes fünfte Kind sei betroffen, schätzt eine Studie der Universität Hamburg; genau wissen kann man es nicht. Aber dass man überall psychisch krank werden kann, auch in den scheinbar besten Familien, hat der Erfurter Amoklauf der Offentlichkeit schockierend deutlich gezeigt. Die Praktiker aber wussten es längst. Viele der Tiefenbrunner Patienten sind Kinder von Lehrern, Pfarrern, Professoren; von Mittelstandseltern, bei denen lange nach außen hin alles in Ordnung scheint. Von Familien, bei denen nicht jeder sogleich denkt: Da stimmt etwas nicht.
Und dann stimmt da gar nichts, nur manchmal dauert es jahrelang, bis es jemand merkt. Joey hat ein neues Lied geschrieben, "Kinderficker, ich jage dich, Kinderficker, ich kriege dich, bis du tot vor mir zusammenbrichst". Er sagt: "So etwas hilft." Der Boxsack hilft auch, der im Sportraum hängt; da hat er neulich eine gute Stunde lang draufgedroschen, "dann hat's Knacks gemacht, aber ich hab weitergeboxt. Jetzt darf ich nicht mehr." Er wackelt an seinem Handgelenk, es knackt, und dann mischt sich Jakob ein, der schmale, dunkle Geschminkte. "Gedichte, interessiert Sie so was? Lesen Sie mal." Ein schwarzes Schulheft, gefüllt mit gestochen scharfer Schrift.
"Alte, verwitterte Steine mit Namen, auf denen der meine noch fehlt ... Das Gras unter meinen Füßen trägt euer Blut in sich ... Noch trägt kein Grabmal meinen Namen. Noch liege ich über euch, die ihr in ersehnter Ruhe, frei von Liebe und Hass seid. Ich beneide euch."
Manche Wörter sind verwischt und schwer zu lesen, weil so viel Blut darauf getropft ist und auf zerknülltem Papier eine befleckte Rasierklinge klebt. Auf der letzten beschriebenen Seite verrutscht die Schrift in unleserliches Gekrakel, quer über das Blatt. Kein klarer Kopf hat das geschrieben, sondern einer, der auf die andere Seite gewechselt hat. Dorthin, wo es keinen Halt mehr gibt. Kann man so jemand zurückholen? "Man kann", sagt eine entschieden bli ckende Frau von etwa 5o Jahren, "es ist möglich", versichert sie.
Annette Streeck-Fischer ist die Chefärztin der Tiefenbrunner Kinder- und Jugendabteilung, seit gut 18 Jahren, und sie reagiert nicht mehr so schockiert auf solche Dinge wie andere Leute. Weil sie lange schon, und immer wieder neu, nach Antworten auf diese Frage sucht: Was muss passiert sein, damit ein Kind nicht mehr leben will? Oder nur noch so, dass es sich oder andere zerstört? Ihre Klinik hat einen Ruf, besonders im Umgang mit traumatisierten Jugendlichen, weil man hier manchmal noch helfen kann,wo andere Versuche vergebens waren. Und weil sie ein bisschen anders ist als die übliehen Kliniken, weil sie nicht aussieht wie eine Psychiatrie, eher wie ein Internat oder ein Schullandheim - ein weites Gelände im Grünen, parkähnlich, mit offenen Türen. Sie vertraue, sagt Streeck-Fischer, auf ein mühsames, anstrengendes Prinzip: "Freiwilligkeit. Kooperation". Aber geht das? Mitbestimmung, wenn jemand sehr jung und psychisch sehr krank ist - kann das funktionieren? Man sitzt da mit Joey und hört seine Selbstmord-Songs; man grübelt über Jakob, der sich verzogen hat, weil er im Moment niemand sehen will, man schreckt davor zurück, mit Laura zu reden, weil sie so finster blickt.
Und dann trifft man Silke, klein, dünn, zappelig und neun Jahre alt, und auch Silke, so ist zu hören, sei freiwillig da. Weil sie es mit sich selbst nicht aushielt, und mit ihrer Wut. Und weil sie wissen wollte, wer sie war. ich mit der Mama besser klarkomme. Und nicht mehr so viele Sachen zerschneide." Silke ist das Kind einer psychisch kranken Mutter, die nicht für sie sorgen kann. Sie wurde Adoptivkind einer Adoptivmutter, die ein ordentliches Zuhause für sie schuf. Ein sehr ordentliches. Und die ziemlich verstört war, als sie in diesem Zuhause dauernd kaputte Sachen fand, und es konnte nur Silke gewesen sein. Auch in der Schule lief es schlecht. "Ritalin", sagten die Ärzte, "ein hyperaktives Kind", aber das half nichts, und als Silke in die Rosenvilla zog, setzte der dort zuständige Arzt das Medikament zügig ab. Sie hat Fortschritte gemacht. Sie war erst in der Klinikklasse, besucht jetzt eine normale Schule draußen, sie war schon zu Kindergeburtstagen eingeladen, es läuft gut.
Sie zerstört nicht mehr so viele Dinge auf der Station, und einmal, das hat sie selbst voller Stolz erzählt, war sie wieder mal wütend und wollte ein Kissen zerschnippeln, als sie eine andere Lösung fand: "Da hab ich geschrien." Die Mitarbeiter begrüßen das. Allerdings, berichtet ihre Psychotherapeutin, findet sie neuerdings immer wieder Kratzer in ihrem Auto - vor allem dann, wenn sie mit Silke in der Therapie unterschiedlicher Meinung war. Silke soll nicht kratzen. Sie soll sagen, was sie wütend macht. "Sie machen sehr viele Fehler", schrieb Silke der Therapeutin an die Tafel. "Das meine ich ernst." Sie hat "Wiedervorstellung" an diesem Tag, das heißt, man wird beschließen, ob sie bald nach Hause fährt oder nicht. Im Büro der Chefärztin sitzen ihre Ärzte und Betreuer und Therapeuten zusammen, und man will von Silke wissen, was sie darüber denkt. Sie hat sich auf ihrem Stuhl an die Lehne gedrückt, sie hat den Platz neben der Chefärztin, sie hört deren Fragen, sie blickt nach unten und knetet den Plüschbären auf dem Schoß.
"Hast du das erreicht, was du wolltest?" "Ja.` "Was denn?" "Dass ich nicht so viele Sachen kaputt mache." "Geht das?" "Ja. Einmal." "Das könnte öfter passieren, oder?" "Weiß nicht." "Kann es sein, dass du manchmal nicht sagen kannst, was dich wütend macht?" "Hmm." "Ich fände es wichtig, dass du noch ein bisschen bleibst", sagt die Chefärztin. "Und du?" Silke sagt nichts. Sie knetet ihren Bären. Will sie nach Hause? Sie neigt den Kopf, zu einem halben Nicken.