Wölfin

      Engelkind

      Stundenlang, immer und immer, die Wehen
      ich dachte, wir beide würden das durchstehen
      und danach würdest du dann in meinen Armen liegen
      sanft schlummern, ich würde dich hin und her wiegen

      Nach ein paar Tagen würden wir nach Haus fahren
      Wo Papa und ich schon lange viel zu alleine waren
      Würden dir einen weichen kleinen Strampler anziehen
      Und jeden Abend deine Spieluhr für dich aufziehen

      Was wäre wohl dein erstes Wort?
      Mama, Papa – oder Selbstmord?
      Hast dein kleines Herz einfach so zum Stillstand gebracht
      ... einfach so... hast niemals geweint, niemals gelacht

      Später dann haben sie mir dich in die Arme gelegt
      Du bist so klein... so perfekt.... und hast dich doch nie geregt
      Hattest kaum die Welt gesehn, kaum das erste Licht
      und wusstet schon, hier leben willst du nicht

      Deine Haut schimmert so rein, samtweißblass
      Bist so zart, dein Köpfchen noch ganz nass
      Ich halt dich fest, wieg uns hin und her
      Ich hab dich lieb... so sehr

      Flieg... flieg davon, mein Engelkind...
      ... und grüß mir das Land hinterm Wind

      Busfahrt


      Wenn ich etwas über die Welt lernen will, steige ich in einen Bus.
      Der Platz ganz hinten rechts muss es sein, von dort aus kann ich die Menschen um mich herum beobachten, kann ich ihr Verhalten sezieren, kann sie auseinandernehmen und schauen, aus welchen Teilen sie zusammengesetzt sind.
      Als ich in den Bus einsteige, ist er so gut wie leer; außer dem Fahrer sitzt noch eine alte Frau drin, in dem Vierer auf der linken Seite, mit dem Blick zurück.
      Ich nehme meinen Platz ein, lege die Beine hoch und stöpsle den Discman ein. Während Saxon mit den Wheels of Steel etwas von mir hinwegträgt, weit hinaus, verbleibt nur noch der logisch-analytische Teil meines Ichs im Bus, irgendwo zwischen Heimat und Ungewissem.
      Die Frau sieht unmöglich aus, denke ich mir; obwohl für mich eigentlich das Innere einer Person das Entscheidende ist, sagt auch das Äußere viel über die Art aus:
      Ziemlich ausladend, ein pinkfarbender Pulli zu knallengen Stoffhosen mit Blümchenmuster, dazu weiße Sandalen, aus denen vorne die Hühneraugen und hinten die Laufmaschen rauskommen.
      Ist Geschmacklosigkeit angeboren oder eine Alterserscheinung? Falls letzters zutrifft, will ich nicht 50 werden müssen!
      Eine Zeitlang passiert nichts und ich blicke aus dem verdreckten Fenster; Bäume säumen die Straße, ihre Äste anklagend zum Himmel erhoben ob der grellen Werbeplakate für Boleropartys, Bekanntmachungen des Katzenliebhabervereins und Reflektorbänder, die ihre Nägel unerbittlich in die Rinde der Bäume pressen.
      Warum dürfen wir nicht einfach Bäume sein statt Litfasssäulen, rufen sie mir zu, wir können doch nicht fliehen!
      Ich bemerke, dass die Frau mich mittlerweile ungeniert anstarrt, Schwarz bis zur Provokation scheint nicht in ihr kleinbürgerliches Weltbild zu passen, das seine Grundfesten auf Häkelbildern an den Fenstern und allabendlicher Volksmusik-Berieselung errichtet hat.
      Ich starre zurück. Einfach so, ohne einen Muskel zu bewegen. Sie weicht zur Seite aus, erst aus dem Fenster, dann, nach einiger Zeit, als sie sich unbeobachtet fühlt, richtet sie ihre Fischaugen wieder auf mich; als sie bemerkt, dass ich sie immer noch anstarre, wird sie rot und fängt an, in ihrer Tasche zu kramen, bis sie endlich eine Frauenzeitschrift herausgenestelt hat und sie, scheinbar desintersessiert an der restlichen Welt, sich vors Gesicht hält und liest.
      Ich schließe meine Augen und versuche, mich nur auf das Gefühl des sich bewegenden Fahrzeugs zu konzentrieren, werde eins mit dem monotonen Geräusch des Motors, spüre die Kurven schon am sanften Abbremsen, ehe wir sie erreichen, weiß, dass jetzt eine lange Gerade folgen wird und sehe vor meinem inneren Auge eine weitgezogenen Piste ins Unendliche, wir rasen darauf zu, immer schneller, yeah...
      Doch daraus wird nichts; der Bus verlangsamt und fährt schließlich rechts ran, eine Haltestelle. Ein Mann steigt ein, so um die 30, klein, unwahrscheinlich dünn, braune Haare, die hinten länger werden und ein Pony, das ihm irgendwie in die Stirn fällt.
      Ein silberner Ohrring, schwarze Jeans und ebensolche Lederjacke, setzt er sich ein paar Reihen vor mir hin und ich überlege, ob er einer von uns ist.
      Irgendwie erinnert er mich an ein Eichhörnchen, wie er sich ständig mit kleinen Bewegungen umschaut, erst auf den Text neben dem Notfallhammer über seinem Kopf, dann das Muster der Sitze, schließlich die alte Frau; nie sitzt er still.
      Mittlerweile bin ich ziemlich sicher, dass er auf Entzug sein muss.
      Plötzlich klettert er in seinem Sitz um 180 Grad und dreht sich zu mir um, ich sehe in seinen Augen, dass er genauso ist wie ich, ein Fremder in dieser Welt, die er genauso wenig versteht wie sie ihn, und ich blinzle ihm zu, er zwinkert zurück, dann zuckt er mit der Hand zum Stopknopf, steht auf und springt flink aus der Tür, kaum dass der Bus angehalten hat.
      Nun drängeln sich viele Leute hinein, sie lachen und und schreien sich gegenseitig an, es sind Schüler und Berufstätige, die endlich Feierabend haben, sie kämpfen um Sitzplätze.
      Ich nehme meinen Collegeblock und einen Stift zur Hand und beginne, von dieser Busfahrt zu schreiben, während draußen die Landschaft vorbeizieht und in den Bus hineinblickt, drinnen viele Menschen sieht, alte und junge, verliebte und von der Arbeit zermürbte, alle zusammengedrängt auf wenige Quadratmeter und doch jeder für sich allein in seinem kleinen Universum.

      Klingenherz

      Und als ich zärtlich dich berühr
      Da springt ein Tröpflein Blut hinaus aus mir
      So heiter, froh und munter
      Tanzt und fliegt es meinen Arm hinunter...

      Ein ästhetisch rotes Bächlein ziert den weißen Arm
      Aus Eis mein Leib, einzig mein Arm pulst warm
      Erfroren mein Lachen, nur die Tränen fließen ständig
      Doch du, mein kleines Klingenherz, schlägst froh und lebendig!

      Und als ich zärtlich dich berühr
      Da springt ein Tröpflein Blut hinaus aus mir
      So heiter, froh und munter
      Tanzt und fliegt es meinen Arm hinunter...

      Bald tanzt du mit, entblößt mich ganz
      dein schmaler Körper wirbelt im Ekstasetanz
      Kalt wird’s mir, so kalt wie’s mir noch niemals war
      Doch du, mein kleines Klingenherz, wärmst mich, bist für mich da!

      Und als ich zärtlich dich berühr
      Da springt ein Tröpflein Blut hinaus aus mir
      So heiter, froh und munter
      Tanzt und fliegt es meinen Arm hinunter...

      Sie sagen, krank seien ich und du – sie mögen uns nicht
      Wiegen, Vermessen, Stempel drauf, Tabletten werden Pflicht
      Manisch-depri, SVV und Borderline
      Doch du, mein kleines Klingenherz, wirst immer tapfer bei mir sein!

      Und als ich zärtlich dich berühr
      Da springt ein Tröpflein Blut hinaus aus mir
      So heiter, froh und munter
      Tanzt und fliegt es meinen Arm hinunter...

      Die Photographie

      Fortgegangen bist du von mir
      vor langer Zeit
      Wohin? Ich weiß es nicht
      doch sehr sehr weit
      Verborgen liegt das Warum
      nur du weißt Bescheid
      Was de Gründe waren
      ... es verbleibt die Einsamkeit.


      Von alten Photos lächelst du mich an
      Die Ränder vergilbt und eingerissen
      So sahst du einmal aus...
      Erinnerung, du bittersüßes Wissen.
      Dein Blick ist so fröhlich, und doch... hinfort.
      Verzweifelte Tränen benetzen mein Kissen
      Komm doch zu mir zurück!!
      Ob die anderen dich auch so vermissen?


      Sie erwarten von mir
      Dass ich genauso bin wie du
      Dass ich dein Lächeln auf meinem Gesicht trage
      Mit deinen Augen in die Welt sehe
      Schließlich bin ich doch die Einzige
      die sie noch an dich erinnert...
      Aber ich kann das nicht!!!
      Ich bin ich, und nicht du!!!


      Das kleine Mädchen von einst ist tot.
      Hat man es ermordet?
      Hat es sich umgebracht?
      .... man weiß es nicht....
      Ich betrachte ihr Lächeln, so unbeschwert
      und während Tränen mir in die Augen steigen
      und meine Kehle sich schmerzhaft zusammenzieht
      merke ich, dass das Mädchen ich ist.

      der tag, an welchem ich meine gedanken begrub


      gedankenmörser, tag und nacht
      was gedacht werden kann, wird gedacht
      nicht zu stoppen, nicht zu lenken
      denken, denken - immer nur denken

      ein mädel, verloren in gedanken
      selbige sich würgend um sie ranken
      sie kann sich nicht wehren, nicht befreien
      was ihr bleibt, ist stummes schreien

      gehetzter blick, blass ihre haut
      wenn sie in den spiegel schaut
      spiegelbild der seele - ihr schrei verklingt
      gedankenriss - der spiegel zerspringt

      glitzernd scherben - irrer wahnsinnsglanz
      ist des denkens letzte instanz

      nimmer denken - nimmer leiden
      nimmer leben - nimmer denken
      nimmer leiden - nimmer leben

      los, lasst den sarg hinab
      schnell hinein ins seelengrab
      erde drauf, erde drauf
      oh, mein herz, wach nimmer auf!

      Der Weg

      Ich durchschritt die Seelentiefen
      Schwarze Dämonen, die dort hockten
      begierig nach mir riefen
      mich mit dunkelsanfter Stimme lockten:

      “Holde Maid, nimm das Messer
      nicht mehr lange, und alles wird besser
      die süße Ruhe ist nicht mehr weit.
      schneid, holde Maid, SCHNEID!”

      Doch will ich nicht verlieren
      was ich gerade erst fand
      so erblickte ich des Todes lüstern Gieren
      und widerstand!

      Zurückfinden zum Leben ist hart
      doch wirklich leben ist noch härter
      oft dachte ich, man hätte mich erneut genarrt -
      Enttäuschungen, das sind der Dämonen Schwerter!

      Ich spürte, wie der Kampf an mir zehrte
      sofort wollte ich alles, mich nicht schonen
      aber je erbitterter ich mich wehrte
      desto stärker wurden die Dämonen

      Selbsthass, Lebensangst, Suchtsorgen
      und der ewige Gedanke “Ich bin schuld!” -
      all dies legt man nicht ab von heut auf morgen
      nur einen Weg gibt es dort hinaus: Geduld

      Mühsam ist er, beschwerlich, weit
      und sicherlich nicht leicht zu gehen
      doch ist er auch umgeben von Seelenschatten und Traumdunkelheit
      so vermag ich den Pfad dennoch deutlich zu sehen:

      Denn der Sonnenstrahl der Liebe scheint
      leuchtend geradewegs in mein Herz hinein
      Glück und Leben vereint
      so will ich lebendig sein!

      Seelenriss


      Um aus der Narbenlandschaft meiner Seele zu fliehen
      Muss ich die Klinge über die Narbenlandschaft meiner Haut ziehen.

      Jedesmal ein bisschen weiter, ein bisschen tiefer.

      Für euch nur ein schmerzender, hässlicher Riss im Körper -
      Für mich eine kleine Tür zur Flucht aus der Realität.

      Jedesmal ein bisschen weiter, ein bisschen tiefer.

      Es sind große und kleine Narben,
      welche die Unschuld meiner Haut für immer verdarben.

      Jedesmal ein bisschen weiter, ein bisschen tiefer.

      Die alten Wunden schimmern blass, die neuen leuchten rot -
      Und die von gerade weist mir den Weg in den Tod.

      Welt aus Watte


      Nein!!! Bitte nicht!!! Bitte...
      Mama....NEIN!!!
      Mama... -

      Los, schluck deine Pillen!
      Ich kastriere deinen Willen
      und ICH werd nun deine Gefühle lenken!
      Schluck, lächle, hör auf zu denken!


      Die Tabletten schreien so grell und so bunt
      zwei gelbe und eine blaue - eckig, eckig, rund
      Dein Hirn ist doch krank, WIR machen es gesund!
      - Das Glas Wasser wiegt neun Tonnen und drei Pfund.

      Plötzlich wird mein Körper so unendlich schwer...
      ... der Marionettenspieler lacht und hockt im Keller
      ... zieht an den Fäden... deine Stimme wird heller...
      ... und mein Kopf... schwebt dahin... so... leer....

      Du sagst, es sei acht
      Also stehe ich auf
      Einer ungezählten Nacht
      Folgt ein ungezählter Tageslauf

      Ich sitze da
      wie paralysiert
      dass da jemals etwas war
      was mich interessiert...?!

      Die Sonne scheint
      ich habe niemals gelacht
      niemals geweint
      nur gesessen, nichts gemacht

      Du sagst, es sei eins
      Also esse ich einen ganzen Teller leer
      Ein schlechtes Gewissen habe ich keins
      - Keine Gedanken, keine Gefühle mehr.

      Nach dem Essen
      lege ich mich hin
      und habe schon vergessen
      warum überhaupt ich hier bin...

      Vergessen ist so angenehm
      sage ich mir, während sich meine Lider senken
      wie schön, ich höre einfach auf zu denken....
      ... Vergessen ist so angenehm...

      Als ich erwache
      stelle ich mit einem Stirnrunzeln fest
      dass auch mein Geist sich wieder regt
      ... aber Vergessen war doch so angenehm...

      Mein Blick gleitet zur weißen Decke
      wandert durch den weißen Raum
      Kontraste, Farben gibt es kaum
      nur die gelbe Schachtel auf dem Tisch dort in der Ecke...

      So kommt mir ein Gedanke
      und während ich zum Tische wanke,
      die Beine wie aus Watte,
      bedaure ich, dass ich ihn nicht früher schon hatte

      Mit etwas tauben Fingern reiße ich den Kartondeckel ab
      und befreie die kleinen Tabletten in ihrem Plastik-Alu-Grab
      fünf mal fünf im Quadrat,
      so liegen sie still und lächelnd parat.

      Die Abendsonne taucht mich in warmes Licht
      als ich eine nach der anderen nehm
      meine Beine knicken weg, es verschwimmt die Sicht
      ... Vergessen ist so angenehm...

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      Lebens~Lauf


      Ein Kind schlug die Augen auf und fand sich auf einem lichterbunt strahlenden Boden wieder, welcher in tausend Facetten funkelte und schimmerte. Langsam stand das Kind auf und blickte sich um – so weit es schauen konnte, sah es keinerlei Wände, sondern nichts als eine grenzenlose Fläche, die so einladend leuchtete, dass es jauchzend loslief.
      Der Boden federte leicht unter seinen blanken Füßen, dass das Springen und Rennen eine reine Freude war. Hie und da blieb das Kind stehen, bückte sich nach einer besonders schönen Blume nieder und freute sich über ihre bunte Faszination. Es lief weiter und summte dann und wann eine der vielen Melodien mit, die ihm zu Ohren drangen. Wundersame Düfte roch es, die ausgefallensten Tiere ließen sich von ihm streicheln, ehe sie mit anmutigen Bewegungen hinwegsprangen. Über allem lag ein tiefes Gefühl des Friedens und des Glücks.
      Das Kind hüpfte gerade über einen samtweichen Flecken und tanzte mit einem violett schillernden Käfer um die Wette, als plötzlich ein großer, dunkler Brocken mitten aus dem Nichts über ihm auf die Erde stürzte. Es erschrak sehr und wich vor dem düsteren, Unheil ausstrahlenden Objekt zurück. Nichts vermochte das Kind zu erkennen, als es nach oben schaute – kein Hinweis darauf, woher dieses seltsame Ding gekommen war. Friedlich und schweigend wie immer erstreckte sich die hellschimmernde Decke weit droben über seinem Kopf.
      Das Kind wagte nicht, den grauen Brocken zu berühren – er verbreitete abweisende, bedrohliche Kälte. Schnell rannte das Kind davon. Doch es kam nicht weit, da sah es aus den Augenwinkeln einen weiteren Fels hinabfallen. Der Boden erbebte unter seinen Füßen, und viele der Blumen knickten plötzlich zusammen, sodass sie schlaff da lagen. Bestürzt kniete sich das Kind neben einer einst so eleganten, tulpenähnlichen Pflanze nieder und nahm die schon angewelkte Blüte sacht in die Hände. Eine salzige Träne tropfte hinab auf sie.
      Mit einmal nahm das Kind einen Schatten über sich wahr und sprang hastig auf. Keinen Moment zu früh, denn ein immenser Brocken stürzte nur eine Armeslänge von ihm hernieder und begrub die Pflanze unter sich.
      Bildete der junge Mensch sich das ein, oder wirkte das Licht nun weniger freundlich? Zitternd dachte er bei sich, wie knapp er eben dem Tod entgangen war. Er seufzte leise und drehte sich dann um, um fortzugehen von diesem Ort, an dem ihm solche Gefahr drohte.
      Nach wenigen Metern spürte er erneut eine Erschütterung des Bodens und beschleunigte seine Schritte, bis er in einen Laufschritt verfiel. Immer wieder musste er einen Haken schlagen, um vor ihm herabstürzenden Brocken auszuweichen. Dichter und dichter wurden die Abstände, in denen sie herniederfielen. Der Mensch begann, zu rennen.
      Oft genug konnte er den Luftzug spüren, den ein neben ihm aufschlagender Felsen verursachte. Der Boden unter seinen Füßen erbebte in immer kürzeren Intervallen, und wohin er auch seine gehetzten Blicke warf, er konnte nur Verwüstung sehen. Zerfallene, verfaulte Blumen verbreiteten einen ekelerregenden, penetranten Geruch. Das Licht war nun wirklich kälter geworden; aggressiv beinahe. Seine Lungen schmerzten, doch der Mensch erlaubte sich keine Rast. Er musste fort von hier, von diesem Ort, an dem kein Dasein mehr möglich war.
      Als er keuchend aufblickte, bemerkte er, wie dicht die Brocken mittlerweile am Boden lagen. Ein Wunder, dass er noch nicht getroffen worden war.
      Er beschleunigte seine Schritte nochmals, als er weit hinten in der Ferne ein warmes Licht schimmern sah. So vertraut war es, so Geborgenheit verheißend!
      Bald würde er es geschafft haben!
      Stechende Krämpfe peinigten seinen Körper, doch der Mensch gab sein Äußerstes und wich weiter behende den Steinbrocken aus. Rechts und links von ihm türmten sie sich nun schon mannshoch auf, doch vor ihm lag immernoch eine schmale Gasse. Unverzagt kämpfte der Mensch sich weiter, bis er auf einmal um Haaresbreite einem Klotz entging, der unmittelbar vor ihm herabstürzte. Keuchend hielt er inne und sah verzweifelt an dem riesigen, kalten schroffen Brocken hinauf. Vorbei konnte er nicht. Das Ding versperrte den gesamten Durchgang. Mit einem Stöhnen arbeitete sich der Mensch langsam an ihm hinauf und kletterte über das Hindernis hinweg. Seine Gelenke und Muskeln schmerzten, und ihm wurde bewusst, wie unendlich lange er schon um sein Leben gerannt war. Als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, erblickte er ein totes, kaninchenähnliches Tier vor ihm liegen. Leblos starrten die kleinen Augen in die graue Decke hoch droben. Ein einzelne kleine Blutspur floß langsam aus seinem Ohr und vermengte sich mit den Tränen des Menschen, der auf einmal all die Last spürte, die auf ihn drückte. Nichts war so, wie es einmal gewesen war. Hinweg die Unbeschwertheit, das Glück. Gehetzt war er all die letzte Zeit, vertrieben aus dem Idyll, ständig bedroht und gejagt. Seine Knochen waren nicht mehr die Jüngsten. Schwer lastete nun eine Ermattung auf ihm, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte. Mit der Linken strich er behutsam das kalte Fell des Tierchens entlang und sank neben ihm zu Boden. Wozu. Warum. Der Greis dachte zurück an die ausgelassenen Stunden, in denen er mit den Schmetterlingen getanzt war. So unendlich lange her schienen sie ihm... wie fühlte es sich an, machen zu können, was man wollte? Hinlaufen zu können, wohin es einem beliebte? Ohne Furcht vor dem nächsten Augenaufschlag zu leben?
      Er wusste es nicht mehr.
      Mit gebrochenem Blick sah er auf, seinen Weg entlang. Ein richtiggehender Tunnel war es; zu beiden Seiten von steinernen Mauern begrenzt und auch oben abgedeckt.
      Das Licht, welchem er so lange entgegengejagt war, ohne dass es nennenswert näher gekommen wäre, schien mit einemal so greifbar nah. Schon spürte er die Wärme, die es ausstrahlte, in seinen alten Gliedern.
      Mit letzter Kraft erhob sich der Alte, nahm das tote Kaninchen hoch und trug es vorsichtig in Richtung des Leuchtens. Klein waren seine Schritte, doch bestetig kam er näher. Geblendet schloss er seine Augen und dachte bei sich, dass dies dem Damals so ähnelte... Wärme... Frieden... Geborgenheit...
      Warum musste ich damals vertrieben werden... so lange Zeit ohn Freud dahinhetzen... immer auf der Flucht... nur um jetzt wieder dort sein zu dürfen, wo meine Reise begann... warum... was war nur der Sinn...?
      Dies waren die letzten Gedanken des Sterbenden.

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