*anna*

      Die Geschichte vom kleinen Mädchen, das ganz unverhofft vom Himmel fiel

      Es war einmal ein kleines Mädchen, das ganz unverhofft vom Himmel fiel. Die Frau, die es gebar, war selbst noch fast ein Kind und sehr erschrocken über das kleine Lebewesen für das sie nunmehr sorgen sollte. Auch ihr Mann, ein junger Soldat des Königs, kratzte sich unbeholfen am Kopf. Dann versprach er aber seiner Familie, die Frau zu ehelichen obwohl sie beide sich nicht liebten, denn das kleine rosa Bündel in ihren Armen brauchte treu sorgende Eltern und so fügten sich der Soldat und die junge Mutter in ihr Schicksal. Sie schenkten dem Kind den Namen Anna, ließen es segnen und nahmen es als das ihre an.

      Nun brach aber eine harte Zeit für die junge Familie herein. Der Soldat bekam zu wenig Lohn vom König und so lebten sie in Armut. Nur hin und wieder erreichten sie kleinere Gaben, von den Großeltern der kleinen Anna gesandt.
      Auch das Kind machte ihnen Sorgen. Es gedieh nicht so wie die anderen Kinder am Hofe oder wie es in den vielen Büchern der königlichen Bibliothek geschrieben stand. Es schrie vielmehr die Nächte durch und raubte seinen Eltern so ihren Schlaf.
      Tagsüber ging der Soldat schon früh aus dem Haus, denn er hatte einen langen Marsch bis zum Palast des Königs vor sich und auch abends kam er erst zu später Stunde wieder. So war die junge Mutter auf sich allein gestellt. Doch was sie auch tat, das Kind blieb mager und kränklich. Bei jedem Zahn fieberte es sehr hoch und einmal wäre es fast sogar g*st*rb*n, hätte sie es nicht in letzter Sekunde zur Dorfheilerin gebracht. Die junge Mutter war verzweifelt. Sie liebte ihr Kind sehr und doch gelang es ihr nicht so recht eine Bindung zu ihm aufzubauen. Manchmal fühlte sie sich so überfordert und alleingelassen, dass sie mit dem Gedanken spielte, zu fliehen oder das Kind auszusetzen. Niemand hatte sie schließlich gefragt ob sie so leben wollte. Doch für diese Gedanken hasste sie sich. Eine Mutter musste für ihr Kind da sein, es lieben und umsorgen. Doch wer liebte und umsorgte sie? War sie nicht selbst noch ein Kind, bedürftig und klein?

      Die kleine Anna spürte die Unsicherheit und Verzweiflung ihrer Mutter und sie spürte auch wie unterschiedlich die Gefühle ihrer Mutter für sie waren. Es gab Tage, da wurde sie in die Luft gehoben, liebkost und fast erdrückt vor Liebe. Und dann gab es Tage, an denen ihre Mutter an der Wiege vorbeiging, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sie spürte beides, Hass und Liebe, doch verstand sie es nicht. Anna fragte sich ob es nicht vielleicht zwei Mütter waren, mit der gleichen Gestalt. Die eine liebte sie und vor der anderen musste sie sich in Acht nehmen.

      Erst später begriff Anna, dass es ganz anders war als sie angenommen hatte. Bei ihrer Geburt war sie nicht in die Arme ihrer Mutter gelegt worden, sondern in eine Waage. Diese Waage besaß nur eine Waagschale, die zwischen zwei Welten hin- und herpendelte. Oben fühlte sich die Welt farbenfroh, lebendig, freundlich und liebevoll an. Die untere jedoch war das genaue Gegenteil – schwarz, kalt, hässlich und rücksichtslos. Rein äußerlich unterschieden sich die Welten jedoch nicht voneinander. Beide waren identisch aufgebaut und es lebten die gleichen Menschen darin. Anna versuchte verzweifelt eine Regelmäßigkeit in ihrem Leben zu entdecken, doch ohne Erfolg. Sie war der Willkür der Waagschale völlig ausgeliefert. Mal durfte sie einige Tage in der oberen Welt verbringen, dann wieder kam der Absturz und die untere Welt baute sich bedrohlich vor ihr auf. Oft geschah es, dass Anna im ersten Moment gar nicht wußte, in welcher der beiden Welten sie sich nun befand. Sie wurde von der plötzlichen Gemeinheit ihres Gegenübers geradezu überrumpelt oder aber sie stand mit eingezogenem Kopf vor ihrer Mutter und wartete auf die schl*g*, bekam aber eine Umarmung. Das alles verunsicherte sie mehr und mehr. Sie hatte das Gefühl in keiner der beiden Welten zu Hause zu sein und war ihnen dennoch schutzlos ausgeliefert.

      Eines Tages jedoch entdeckte Anna in ihrem Zimmer eine geheime Tür. Hinter ihr befand sich der größte Schatz den das kleine Mädchen sich vorstellen konnte. Die Wände und der Boden des geheimen Raumes waren über und über mit Masken bedeckt. In allen Farben und Formen gab es sie und jede hatte einen anderen Ausdruck. Es gab lachende und weinende Masken, Masken die wütend aussahen und Masken die geradezu engelhaft wirkten. Sie griff nach einer lachenden gelben Maske und probierte sie an. Sie passte genau. Anna ging zum Spiegel in ihrem Zimmer und betrachtete sich. Sie war gar nicht wiederzuerkennen. Die Maske war mit ihrem eigenen Gesicht verschmolzen und hatte ein strahlendes Lächeln, das kaum merklich von einem gelblichen sonnenwarmen Schimmer umgeben war, zurückgelassen. Anna gefiel dieser Zauber sehr. Und noch etwas anderes war mit ihr geschehen. Sie merkte wie ihre eigenen Gefühle hinter dieser Maske verschwanden und für andere verborgen in ihrem tiefsten Inneren eingeschlossen wurden. Anna nahm die Maske ab und jubelte vor Freude. Endlich hatte sie einen Weg gefunden, wie sie in beiden Welten überleben konnte. Nun hatte niemand mehr die Macht sie zu v*rl*tz*n denn sie konnte all ihre wahren Gefühle hinter ihrer inneren Mauer verstecken. Niemand würde mehr erfahren wie sie wirklich fühlte und sie würde dieses Geheimnis sehr gut hüten. Anna wählte ein paar Masken aus und trug sie von nun an immer bei sich. Hin und wieder machte sie von den anderen Gebrauch doch ihre Lieblingsmaske blieb die gelbe. Mit einem Lächeln kam man fast überall weiter.

      Anna war froh und dankbar über ihre Entdeckung, sie half ihr im Kampf ums Überleben aber viele Schwierigkeiten blieben. So kam es, dass ihre Mutter ein zweites Kind gebar. Der kleine Junge war nicht wie sie ganz plötzlich und unerwartet auf die Welt gekommen, sondern von ihren Eltern sehnlichst herbeigewünscht worden. Sie gaben ihm den Namen Paul, ließen ihn segnen und nannten ihn ihren kleinen Prinzen. Anna merkte das etwas anders war. Paul wurde nicht wie sie in eine Waagschale gelegt. Er musste nicht zwischen guten und bösen Eltern pendeln sondern wurde in beiden Welten gleich geliebt wie sie es so oft schon bei anderen Kindern beobachtet hatte. Das machte Anna wütend. Warum erging es ihrem Bruder besser als ihr selbst? Warum teilten sie nicht das gleiche Schicksal? Sie begann ihren Bruder zu hassen und wenn die beiden allein waren machte sie sich nicht die Mühe ihren Hass hinter einer ihrer Masken zu verbergen. Das verschreckte ihren Bruder, doch je älter und klüger er wurde, desto mehr wußte er seine gute Position auszunutzen. Und so wurden die Momente mit ihrer Familie in der oberen Welt viel seltener. Immer öfter stürzte sie ab und Paul gefiel es mehr und mehr ihr von oben dabei zuzusehen.

      Anna gab die Hoffnung auf, je wieder ihre obere Familie zu sehen und wollte sich daher mit der unteren gutstellen indem sie wieder und wieder versuchte, ihren Ansprüchen zu genügen, doch ohne Erfolg. Es gelang ihr nicht, ihre Eltern zufriedenzustellen, egal was sie auch versuchte. Sie blieb das böse missratene Kind das alles falsch machte. So setzte Anna ihre lachende Maske auf und vergrub ihren schm*rz ganz tief in ihrem Inneren.

      Eines Tages verließen Anna und ihre Familie das Land des Königs, da ihr Vater als Soldat nicht länger in seinen Diensten stand. Sie ließen sich in einem kleinen Dorf nieder dessen Menschen nicht gerade für ihre Freundlichkeit bekannt waren. Es begann eine harte Zeit für die kleine Anna. Die Kinder des Dorfes erkannten sofort, dass sie anders als die anderen war und waren grausam und gemein zu ihr. Es gelang ihr nicht die passende Maske für diese Kinder zu finden und so ergab sie sich und ertrug stillschweigend ihren Spott. Wenn sie allein war flüchtete sie sich in ihre Bücher. Sie war ein wissbegieriges Mädchen und wollte alles was es auf der Welt gab lernen und verstehen. Auch Bücher, die Geschichten erzählten, liebte sie sehr. Sie konnte die Bilder, die in den Büchern beschrieben wurden, in ihrer Phantasie Wirklichkeit werden lassen und schlüpfte selbst in die Gestalten der Helden und Prinzessinnen, Monster und Feen. Nicht selten verlor sich das kleine Mädchen so sehr in ihren Büchern, dass sie Schwierigkeiten hatte sich in der Realität zurechtzufinden. Und mit jedem Buch das sie ausgelesen hatte, starb ein Teil von ihr mit.

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      FORTSETZUNG

      Bald merkte Anna, dass sie die Willkür der Waagschale doch etwas beeinflussen konnte. Es hing oft von den Menschen in ihrer Umgebung ab ob sie abstürzte oder hinaufstieg. So verbrachte sie soviel Zeit wie möglich mit ihrem Großvater. Er war ein weiser alter Mann der seiner kleinen Enkelin Ruhe und Geborgenheit schenkte. Sie konnte ihr Gesicht in seinem Hemd vergraben und so vor allem Schlechten schützen. Zwischen den beiden wuchs ein unzertrennliches Band und sie genossen jede Sekunde in der Gesellschaft des anderen. Sie unternahmen lange Spaziergänge in den Wäldern und ließen sich von Annas Großmutter verwöhnen. Bei diesen Menschen, so wußte Anna, hatte sie einen sicheren Platz in der oberen Welt gefunden.
      Doch die Jahre zogen ins Land und kurz bevor Anna ihren elften Sommer erlebte starben ihre Großeltern. Mit einem mal waren beide wichtigen Menschen aus ihrem Leben verschwunden und sie stürzte so schnell und so tief wie noch nie. Doch Anna rappelte sich wieder auf und lachte weiter – tagein , tagaus. Niemand sah ihren Schmerz den sie im Inneren verschlossen hielt und so bekam sie auch keinen Trost, denn wer lächelte war wohlauf.

      Anna wurde immer einsamer. Es gelang ihr nicht mehr die Maske abzusetzen, längst war sie mit ihrem Gesicht verwachsen. Und sie hätte auch gar nicht mehr gewusst was sich hinter dieser Maske befand. Sie hatte vergessen was sie war, wer sie war. Sie hatte den Bezug zu ihren Gefühlen hinter der Mauer verloren. Doch das konstante Lächeln auf ihrem Gesicht machte sie für andere noch befremdlicher und isolierte sie immer mehr.

      Düstere Jahre brachen herein, Zeiten in denen sich die neutralen Gefühle der Eltern füreinander in Hass aufeinander veränderten. Hass der beide fast vernichtete. Hass, den das Mädchen verzweifelt auf sich zu ziehen versuchte um ihre Eltern voreinander zu schützen. Gewalt und ständige Gefahr bestimmten von da an das Leben der kleinen Anna . Sie war immer auf der Hut und lag sogar nächtelang wach um zu lauschen ob sich die Eltern einander wieder etwas antaten. Es waren dunkle Zeiten in denen sie alles anzweifelte und die Existenz einer oberen Welt fast vergaß. Zeiten in denen sie Gift sammelte und vom Freitot träumte. Zeiten in denen sie sich in Phantasiewelten flüchtete.
      Sie begann dem unerträglichen Schmerz, den andere bei ihr verursachten, ihren eigenen Schmerz entgegenzusetzen. Sie nahm die Schmerzen der anderen vorweg, verletzte sich selbst bevor es andere konnten. Ihre eigenen Schmerzen waren viel besser zu ertragen als die, die von anderen verursacht wurden. Sie konnte durch sie wieder ein Stück hinter die Maske schauen, einen Teil ihrer Selbst hinter der Mauer erkennen. Sie selbst hatte nun die Macht über sich und nicht mehr die anderen. Auch war es ihr nun wieder für wenige Augenblicke vergönnt in die obere Welt aufzusteigen.

      Mit der Zeit wurde aus dem kleinen Mädchen eine junge Frau.

      Eines Tages traf Anna bei einer ihrer langen Wanderungen ein Fabelwesen. Es schillerte in allen Regenbogenfarben und hatte sehr viel Ähnlichkeit mit einem stolzen Pfau. Anna merkte schnell das der Pfau viele Eigenschaften mit ihr teilte. So war auch er ein Meister der Verkleidung und fiel durch seine Andersartigkeit auf. Anna fühlte sich diesem Fabelwesen sehr verbunden und die beiden wurden unzertrennlich. Endlich verstand sie jemand. Endlich fand auch sie Zuspruch bei einem anderen. Gemeinsam stiegen sie in die obere Welt hinauf und hatten nur noch Augen füreinander. Nichts und niemand konnte ihnen etwas anhaben, sie hatten die Welt für sich erobert. Anna genoss die Unbeschwertheit mit allen Sinnen und hatte zum ersten Mal das Gefühl wirklich zu leben. Und auch der Pfau begann aufzublühen und fasste mehr und mehr Vertrauen zu ihr.

      Doch langsam begann die Fassade zu bröckeln. Die Unbeschwertheit schwand mehr und mehr und die gemeinsamen Träume der beiden bekamen hässliche Risse. Die Federn des Pfaus verloren an Glanz und er ließ betrübt seinen Kopf hängen. Anna wußte sich keinen Rat. Was war geschehen? Dunkle Schatten hatten die beiden eingeholt und der Absturz in die untere Welt rückte bedrohlich näher. Sie wußte das es dem Pfau nicht gut ging. Ein dunkles Geheimnis umgab ihn und drückte ihn unaufhaltsam tiefer zu Boden. Sie versuchte mit ihm zu reden, ihm zu helfen, doch stieß sie bald an ihre Grenzen denn der Pfau hatte sein Rad geschlagen. Und jedes Auge auf seinen Schwanzfedern wurde zu einem weiteren Pfauengesicht mit Gefühlen und Gedanken, Problemen und Ängsten. Bald wußte Anna nicht mehr mit wem sie sprach. Jegliche Versuche ein System in den Gesichtern zu erkennen scheiterten. Ab und zu gelang es ihr den ein oder anderen Kopf zu unterscheiden, aber oft maskierte der Pfau seine vielen Gesichter bis zur völligen Unkenntlichkeit.

      Die einstigen Gemeinsamkeiten hatten sich in diesem Wesen verloren. Zu viele Meinungen und Charaktere waren in ihm vereint, als dass auf einen einzelnen Menschen Rücksicht genommen werden konnte. Anna verzweifelte. Sie spürte, dass ihre Zeit in der oberen Welt zu Ende ging und sie hatte furchtbare Angst vor dem bevorstehenden Fall. Der Pfau hatte ihr die schönen Aspekte des Lebens gezeigt, hatte ihr die obere Welt zu Füßen gelegt und eigene Regeln und Gesetze erschaffen. Dies alles wollte Anna, nun da sie es kannte, nicht mehr entbehren. Doch die Waagschale stürzte zu Boden und mit ihr Anna und all ihre Hoffnungen und Träume.

      Aber etwas hatte sie bei ihrem Sturz mitgenommen, etwas das durch den Pfau geweckt worden war. Eine innere Stärke war durch die Mauer in ihr gebrochen und strömte gleichmäßig in jede Faser ihres Körpers. Diese geheimnisvolle Stärke ließ sie aufstehen und weiterhoffen. Sie wußte nun, dass sie ihr Schicksal ändern konnte, dass sie der Waagschale entrinnen konnte. Es lag in ihren Händen und sie war fest entschlossen sich zur oberen Welt emporzukämpfen.

      Noch bevor sie einen ersten Schlachtplan entworfen hatte, erreichte sie eine Botschaft, überbracht von einem geheimnisvollen Greif.
      Anna nahm ihm den Brief aus dem Schnabel und begann zu lesen. Die Zeilen, die dort geschrieben standen, berührten sie sehr. Es war als hätte ihr tiefstes Inneres sie verfasst. Sie stammten von einem jungen Mann, der von seinem ausweglosen Leben in einer Waagschale schrieb. Tag für Tag war er ihrer Willkür ausgeliefert und suchte verzweifelt nach Halt. Anna blickte auf. Tränen liefen ihr über die Wangen. Konnte es wirklich sein das noch jemand genauso fühlte wie sie? Das jemand das gleiche Schicksal teilte? Dieser fremde Mensch hatte ihr mit den Zeilen so viel gegeben, dass sie ihm etwas davon zurückschenken wollte. Sie griff nach Feder und Papier und offenbarte dem jungen Mann all ihre Gefühle. Den zusammengerollten Bogen gab sie dem Greif, der nur darauf gewartet hatte, mit einer Botschaft zurückkehren zu können. Auch der junge Mann reagierte wie Anna und suchte weiterhin ihren Kontakt. Bald schon verging kein einziger Tag mehr, an dem der Greif nicht wenigstens einmal mit einer Botschaft im Schnabel am Himmel zu sehen war.

      Die Distanz zwischen den beiden verringerte sich mehr und mehr und bald schon konnte Anna den jungen Mann in der Ferne erkennen. Ungeduldig wartete sie auf den Augenblick ihn endlich in die Arme schließen zu können. Und schließlich war es soweit. Ihr Freund aus der Ferne stand vor ihr. Lächelnd griff er in ihr Gesicht und nahm die Maske ab. Er erkannte was hinter ihr lag und sie ließ es zu. Und auch Anna erkannte wer sich hinter der Maske ihres Gegenübers verbarg. Sie kannte ihn, hatte ihn schon immer gekannt. Da stand er, ihr wahrer Bruder, ihr ewiger Zeitgefährte mit dem sie schon viele Leben vorher gelebt hatte. Irgendwann auf ihrer Reise zwischen gestern und heute hatten sie sich verloren und nun, nach einer schier unendlichen Zeit, hatten sie sich wiedergefunden. Anna konnte ihr Glück kaum glauben und schmiegte sich an ihren großen Bruder. Der Greif kreiste über ihren Köpfen und ließ etwas aus seinem Schnabel fallen. Der junge Mann fing es auf. Es war ein Bündel aus Stoff. Darinnen lagen zwei Lederbänder, die aus längst vergangenen Zeiten stammten. Die Geschwister erkannten sie als die ihren, die ihnen vor langer Zeit in die Wiege gelegt worden waren. Auf ihrer gemeinsamen Reise durch die Zeit hatten sie sie in dem Moment verloren als sie auch sich selbst verloren hatten. Sie legten sie an und schworen sich, niemals mehr getrennte Wege zu gehen.

      Anna hatte nun,da sie mit ihrem Seelenverwandten vereint war, noch mehr an Stärke gewonnen und so beschloss sie, den langen mühsamen Weg zur oberen Welt anzutreten. Doch ihr Vorhaben schien ausweglos. So oft sie sich auch nach oben kämpfte, so oft fiel sie wieder hinunter. Alle Versuche, sich in der oberen Welt zu halten, scheiterten kläglich. Anna verzweifelte allmählich. Sie konnte sich nicht erklären, warum es ihr immer wieder misslang. Irgendwas musste sie falsch machen.
      FORTSETZUNG

      Eines Tages traf sie auf eine Schneeeule und da Eulen bekanntlich sehr weise Tiere waren, klagte Anna ihr ihr Leid. Die Eule hörte aufmerksam zu und antwortete Anna, dass sie wußte was für einen Fehler sie begang. Sie versuchte immer wieder die obere, gute Welt zu erreichen doch es gab keine Welt die ohne das Schlechte existieren konnte. Genauso wenig wie es eine Welt gab, in der nur das Schlechte allein existierte. Es war also ausweglos zu versuchen die gute Welt zu erreichen.
      Anna setzte sich ins Gras und dachte über die Worte der weisen Eule nach. Wenn es stimmte was sie sagte, existierten die Welten, so wie sie sie wahrnahm, also gar nicht. Ihre Realität wurde in Frage gestellt, alles was sie in ihrem Leben bisher kannte, alles Vertraute gab es nicht so wie sie es sah. Anna war verwirrt, doch sie schenkte den Worten der Eule Glauben. Es musste also eine Welt geben, die zwischen der oberen und der unteren lag. Eine Welt auf der beide Extreme nebeneinander existierten, ohne sich gegenseitig in Frage zu stellen. Nur wie sollte Anna diese Welt finden? Sie war doch ein ihr völlig unbekanntes Ziel.
      Woche für Woche besuchte sie die weise Schneeeule auf ihrer Waldlichtung um hinter das Geheimnis der Zwischenwelt zu kommen. Sie wollte, dass die Eule ihr von dieser Welt erzählte und ihr den richtigen Weg wies. Bald schon merkte Anna, dass es ein sehr langer und steiniger Weg war. Die Eule sprach oft in Rätseln zu ihr, die sie erst entschlüsseln musste, doch sie gab nicht auf. Das weise Tier hatte viel Geduld mit ihr und so kämpfte Anna sich Schritt für Schritt weiter.

      Immer noch war die Waagschale in Bewegung. Immer noch kamen die Abstürze plötzlich und unerwartet, doch jetzt hatte Anna ein Ziel vor Augen. Es war ihr gelungen einen dünnen Faden von ihrer Waagschale zur Zwischenwelt zu spannen. Und mit jedem Besuch bei der Schneeeule wurde dieser Faden ein paar Millimeter dicker.

      Anna erzählte ihrem großen Bruder und treuen Zeitgefährten von den Begegnungen mit der Eule und von ihren Fortschritten. Es tat ihr sehr weh zu sehen, dass ihr Bruder das gleiche Schicksal teilen musste und so sollte er an allem teilhaben was sie und ihn weiterbringen konnte.

      Hier an dieser Stelle endet nun das Märchen von der kleinen Anna, denn noch ist sie nicht angekommen in der Zwischenwelt, noch immer rappelt sie sich nach jedem Absturz wieder hoch und noch immer kämpft sie sich Schritt für Schritt weiter. Doch eines Tages, und das weiß sie ganz genau, wird sie auf ihrem selbstgeknüpften Seil durch die Tore der Zwischenwelt schreiten. Und sie wird begleitet werden von ihrem Zeitgefährten, der seine Waagschale ebenfalls verlassen und sie eingeholt hat. Und sie wird von der Schneeeule auf der anderen Seite der Tore in Empfang genommen werden, denn längst wartet das Tier darauf, sie durch ihr Reich zu führen. Und zuletzt, so weiß Anna, werden sich die Tore hinter ihnen schließen und die Waagschale, die so lang ihre Leben bestimmt hat, wird in Vergessenheit geraten.




      Ende
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