Schneidende Gefühle

      Schneidende Gefühle

      Artikel der Thüringer Allgemeine vom 25.7.2007

      Schneidende Gefühle

      Sie schneiden sich mit Rasierklingen zentimetertief ins Fleisch, drücken Zigaretten auf dem Arm aus oder verbrühen sich mit heißem Wasser. Immer mehr Menschen verletzen sich absichtlich, wenn Ängste, Depressionen oder Selbsthass so groß werden, dass nur noch körperlicher Schmerz zu helfen scheint.

      ERFURT. Der Kühlschrank springt an. Summt paar Minuten. Ist wieder ruhig. Summt dann erneut. Nora ist wach. Ihr Arm tut weh, zerschnitten von einer Rasierklinge. Hat sich damit die Haut aufgeschlitzt, bis Blut kam und jetzt sehen die Linien nebeneinander so aus, wie ein Strichcode auf den Waren im Supermarkt. Wischt sie den linken Arm ab und wickelt eine Binde drum.

      Zwölf Jahre her, das erste Mal, ein Tag im Juni oder Juli, jedenfalls nicht lange hin bis zu ihrem 37. Geburtstag. Was genau war, da kann sie sich einfach nicht mehr dran erinnern. Hatte sich so ein Gefühl angestaut, ist immer mehr geworden und unerträglich. "Erst als ich mein Blut gesehen habe, war diese Spannung weg." Kam aber wieder.

      Experten schätzen, dass sich in westlichen Ländern knapp ein Prozent der Bevölkerung während ihres Lebens mehrfach selbst verletzt hat - in Deutschland also 800 000 Menschen.

      Bei Mädchen ist Schneiden fast zur Mode geworden "Früher hat man sich die Haare knallrot gefärbt, heute ritzt man sich", erklärt die Erfurter Psychologin Dr. Alina Wilms. "Gefährlich wird es, wenn Selbstbeschädigungen zum Hilfsmittel werden, um inneren Druck abzulassen. Menschen sich verletzen, bevor es jemand anderes tut. Sich verstümmeln, um sich unattraktiv zu machen. Oder jemand Schmerz braucht, um sich aus extremem psychischen Zuständen zurückzuholen", sagt Trauma-Therapeuten Wilms.

      Warum? Auf die Frage wird Noras Blick starr. Sieht kurz so aus, als ob sie sich mit ihm an einem Punkt im Raum festhält. Doch die geweiteten Pupillen verraten, dass es ein Blick ist, der sich verliert, in ihr sucht, sich verläuft, bis er plötzlich mit einem Lidschlag wieder nach außen kommt, aber keine Antwort mitgebracht hat. Die Sätze, die sie nach solchen Momenten ausspricht, sind ein Ankämpfen gegen eine fehlende Antwort, aber in Wirklichkeit nur mehr von der Frage.

      Es hat Tage gegeben, da ist sie raus aus der Wohnung, aus dem Neubaublock, die Straße runter, so lange gelaufen, bis ihr Körper erschöpft war und sie wieder klar im Kopf. Und Tage, da hat sie unterm Kopfhörer die Musik aufgedreht, bis die lauter war als ihre Gedanken. Hat gesoffen, um breit zu sein, nicht da zu sein. Wie im Wahn gegessen, bis sie ganz leer war, so voll war sie. "Hat alles nicht lange geholfen." Schneiden schon.

      Ihr Körper wehrt sich jedes Mal, schaltet sofort ins Reparaturprogramm, an dessen Ende eine Narbe steht. Doch die Narbe ist nicht identisch mit dem Ort der Beschädigung. Als Mädchen missbraucht, als Frau von Männern geschlagen, arbeitslos, Scheidung, Frauenhaus, Angst, Panik, Psychiatrie, eine Tochter, die noch ein Kind ist, aber selbst schon eins hat und ein Sohn, der im Knast sitzt - wäre das Stoff einer Seifenoper im lauwarmen Vorabendprogramm, man würde dem Drehbuchautor vorwerfen, er hätte die Rolle der Nora übertrieben. Aber Umschalten geht hier nicht.

      Bis weit in die 1990er-Jahre hinein galten solche Selbstverletzungen als Zeichen für eine Persönlichkeitsstörung: Borderline war lange Zeit eine Mode-Diagnose und so kritzelten Ärzte zuhauf "F60.31" auf den Befund - ein Etikett, das vielen angeklebt wurde.

      Doch das Selbstbeschädigen ist nicht Erkrankung, ist Symptom. Mangelndes Selbstwertgefühl, gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper, kaputte Familien, Missbrauch: erst wenn die Ursachen bekannt sind, so Psychologin Wilms, "kann man die selbstzerstörerischen Muster überwinden". Vielen hilft eine Therapie. Verbietet man Patienten dagegen Selbstverletzungen, raubt man ihnen eine Bewältigungsstrategie, was die psychische Qual nur noch verstärkt.

      Therapeuten lassen Betroffene deshalb zunächst ungefährliche Alternativen ins Notfallarsenal aufnehmen: ein Tropfen Tabasco auf die Zunge, auf Chilischoten beißen oder Eiswürfel stark in den Händen drücken, wenn der Drang wieder übermächtig wird. "Schmecken und fühlen statt schneiden", sagt Wilms.

      Sich zu verletzen, muss in einer Gesellschaft umso befremdlicher anmuten, die eine dichte, straffe, glatte Haut zum Ideal erkoren hat. Eigenfett, Kollagen und Botox-Spritzen sind lediglich drei von zahllosen Möglichkeiten, die alle ein Ziel haben: eine makellose Oberfläche. Jede Falte, jede Wunde, jeder Riss bringen diese dagegen in Gefahr, jede Verletzung droht als Narbe eine Spur zu hinterlassen, die ein Leben lang bleibt.

      Dass man in einer Gesellschaft Aufmerksamkeit erregen kann, die auf eine seidenglatte Körperhülle und auf Schmerzfreiheit fixiert ist, wenn man inneren mit physischen, mit moralischen Schmerz verbindet, zeigen Künstler wie Rainald Goetz, der sich 1983 beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis vor laufender Kamera die Stirn blutig ritzte.

      Nora wird im August 49. Sie schneidet sich nicht mehr so oft, und nicht mehr an den Armen ("Schäme mich"), sondern den Beinen ("Weil man das nicht so sieht."). "Wenn ich irgendwann mit mir im Reinen bin, wird das hoffentlich aufhören."

      Manchmal, wenn das Blut abgewischt und der Schnitt verbunden ist, liegt Nora da und denkt an alle Sachen, die sie nie kennen wird. Dann springt der Kühlschrank wieder an.

      Von Michael WASNER
      Das Lächeln wird ewig meine Maske sein & ich tanze im Regen, damit mich keiner weinen sieht.

      nicht allein, sondern einsam
      Also ich würde auf jeden Fall ein "Vorsicht Trigger" davor setzen. Heftiger Text. Aber wahr.
      Ja, so kanns passieren. Schrecklich. Aber gut, dass man dem Problem Beachtung schenkt.

      Lg, Bine


      Die Welt mit Staub bedeckt, doch ich will sehn wo's hingeht.
      Steig auf den Berg aus Dreck, weil oben frischer Wind weht.
      Hey, alles glänzt, so schön neu.
      (Peter Fox - Alles neu)

      Ja.. der Text ist schon hart. Aber ich glaub kaum, dass sich die Thüringer Allgemeine dafür interessiert, ob dies triggert oder nicht. Ich hab es einfach vergessen dazu zu schreiben... tut mir Leid.

      Der Artikel ist auch ursprünglich mit Bild gewesen, aber das war im internet nicht. also wer mit dem thema vertraut ist, hätte den artikel aufgrund des bildes schon mit vorsicht genossen.
      (auf dem bild ist im hintergrund verschwommen ein mensch zu sehen un dim vordergrung ist in der mitte eine rasierklinge abgebildet)

      Mich wundert es nur, dass gerade eine solche Zeitung so ein Thema aufgreift. Aber auf der anderen Seite finde ich es gut... Hoffentlich lesen es hier nur nicht allzuviele Leute -.-
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      nicht allein, sondern einsam
      Sagt mal, das mit der "mode", was da auch drin steht... Gibts das wirklich? Ich dachte immer, das währe nur so ein Vorurteil... vielleicht um die vielen Mädchen zu erklären, die sich verletzen... (mir tut so was wie das Wort "mode" im zusammenhang mit SVV immer tierisch weh
      Am I that unimportant -
      am I so insignificant?
      Isn't something missing -
      isn't someone missing me?
      (Evanescence - Missing)
      Der Artikel ist nicht schlecht, bis auf untenstehendes Detail. Hätte ich der TA gar nicht zugetraut, dass die auch über sowas berichten (die Mutter meines Freundes hat sie abonniert; wenn ich bei ihm bin, lese ich die auch ab und zu mal. Schei**, hoffentlich übersieht sie diesen Artikel ...).

      Original von Sanna
      (...) Gibts das wirklich? (...)


      Ich würde es jedenfalls nicht so nennen, aber wie Tabsi schon geschrieben hat, existiert leider ein gewisser "Nachahme-Effekt".
      ~ Memories that touch our hearts will never fade away ~

      Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von „Kasmodiah“ ()

      ja, das gibt es wirklich. es scheint leute zu geben, ohne das ich hier irgendjemanden zu nahe treten möchte, die es tun, weil svv in der letzten zeit öfters in den medien etc. aufgetreten ist. in der psychologie ist das auch als werther effekt bekannt. dies bedeutet, dass taten über die ausgiebig in den medien berichtet wurde, oft nachgeahmt werden. sozusagen ein nachahmungeseffekt. aber ich selbst kann und möchte darüber nicht urteilen, da ich weder erfahrungen davon gesammelt hab noch mich ausgiebig damit beschäftigt hab.
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      nicht allein, sondern einsam
      Ja ja die Nachahmung...
      Einerseits denke ich, ist es für die breite Masse einfacher, verdaulicher, wenn sie es als "Mode" abtun.
      Andererseits glaube ich schon, dass es bestimmt welche gibt, die sich verletzen, weil es cool aussieht... auch wenn ich so jemanden am liebsten an der Gurgel packen würde und richtig durchschütteln...


      Die Welt mit Staub bedeckt, doch ich will sehn wo's hingeht.
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      (Peter Fox - Alles neu)

      oh bitte... nicht schon wieder das thema
      "wer macht es aus den richtigen gründen und wer nicht". -.-
      bitte...
      und auch nicht schon wieder das "emo-klischee". -.-
      vorher wars die gothic-szene über die behauptet wurde,
      dass sich dort alle verletzen, jetzt ist es emo.
      svv gibts überall. das ist nicht szene-gebunden.
      und nein (zum tausendsten mal jetzt):
      es gibt keine hierarchie unter svv-betroffenen.
      ist es nicht scheißegal aus welchen gründen jemand den eigenen körper
      zerstört?
      oh man... dieses thema gab es jetzt schon sooooo oft, dass man nichtmal
      mehr die threads zählen kann, weil es so viele sind. -.-

      ---------------------

      @topic
      für ne tageszeitung gar nicht schlecht.
      wenn auch vom schreibstil her ziemlich auf sensation aus.
      endlich mal ein etwas vernünftigerer artikel über svv!
      und das in einer tageszeitung *verwundert bin*
      es wird auch mal gezeigt, das nicht nur jugendliche betroffen sind, sonder auch erwachsene!
      auch die anderen informationen sind für die länge des textes recht gut!

      klar, tageszeitungn wollen sensationen, aber dafür recht gut gelungen!
      ich bin gezeichnet... gezeichnet vom leben... aber ich LEBE!!!
      hab grad auch gelesen, hat mich ziemlich getriggert und runtergezogen, glaub... :(
      Aber ausführlich und langer text... nich schlecht fürne zeitung.
      *noch was sag will* :D
      Finde nachahmung schrecklich, wer das tut weiß einfach nich wie es ist!
      Wie Bine schon sagte, würde ich den leuten die das machen auch am liebsten durchschütteln... sowas macht mich wütend :evil: sowas is nur gemein...
      und erst recht wenn man selbst zu hören bekommt das man es ja eh bloß macht, weil man mehr aumerksamkeit will... habe ich auch schon mitgemacht, aber ist es nich klar, wenn man sich dann lange,sehr lange und heftig verletzt und dann sich umbringen will... is es dann nich klar das man es nicht macht, nur um Aufmerksamkeit zu bekommen???
      Das versteh ich nicht...
      Naja, solche leute sollte man einfach ignorieren und aus dem Weg gehen!...

      machts gut ;)


      Lg
      Verstehen kann man das Leben nur rückwärts...
      Leben muss man es vorwärts.