Hi,
im ICD10 oder DSM IV steht noch nichts davon, die kommenden Diagnostik-Handbücher sollen aber voraussichtlich um diese Form der Dissoziation erweitert werden.
Da anscheinend der allgemeine Glaube vorherrscht, dass man eine dissoziative Identitätsstörung (bzw. multiple Persönlichkeitsstörung) hat, wenn man verschiedene "Anteile" in sich verspürt, die mehr oder minder eigenständig handeln können, möchte ich diesen Auszug aus Michaela Hubers Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 hier posten. Vielleicht kann man den Auszug ja zur Definition hinzufügen - als Ergänzung oder als Anmerkung, dass dissoziative Störungen fließend verlaufen und dass es sehr viele verschiedene Formen gibt?
Liebe Grüße
c.n.
Ego-States
(S. 126 ff)
Beispiel
Renate Freundlich (Name geändert) kommt zu mir mit der Frage: „Bin ich wohl multipel?“ Und erklärt, dass sie von der dissoziativen Identitätsstörung gehört hat: „Irgend etwas daran trifft auch auf mich zu.“ Nach einer sorgfältigen Diagnostik kann ich sie beruhigen: Nein, sie ist nicht multipel. Doch es ist ganz deutlich: Sie hat sehr verschiedene Anteile in sich und leidet zum Teil erheblich darunter, dass sie „so verschieden ist“. In ihrem Beruf ist sie „ganz die tolle berufstätige Frau“, aber in der Theater-AG, in der auch einige Kollegen sind, „da spiele ich manchmal ganz obszöne Rollen, oder auf derbe Weise den Clown, das ist mir hinterher immer sehr peinlich.“ Bei mir erschein sie manchmal wie ein draufgängerischer, aber charmanter kleiner Junge mit Knickerbockern und Schiebermütze – irgendwie erinnert sie mich dann an den kleinen Jungen auf dem Plakat mit Charly Chaplin als „Tramp“. Ein andermal kommt sie mit zartesten Blüschen, spricht leise und ängstlich wie ein kleines Mädchen. Dann wieder wirken ihre Bewegungen eckig und ungelenk und sie kann „brutale“ Sätze äußern. Immer wieder bricht etwas aus ihr heraus, und sie schildert, dass sie große Mühe habe, die verschiedenen Anteile zu akzeptieren, geschweige denn, sie zu steuern.
Multipel ist sie jedoch nicht, weil sie keine pathologische Alltags-Amnesien hat; sie weiß immer, wann sie in welcher Rolle ist, und mit einiger Konzentration schafft sie es auch, von einem Persönlichkeitsteil zum anderen zu wechseln. „Die kommen eher so aus mir hervor“, sagt sie. „Mit Mühe kann ich es verhindern oder zulassen, aber trotzdem irritiert es mich, und ich frage mich oft: Wer bin ich denn _eigentlich?“
Ein pures Rollenspiel ist es aber auch nicht, denn sie fühlt sich von außen gesteuert: Je nachdem, wer oder was gerade auf sie zukommt (die Chefin, ihr Berufsalltag, ihr Sohn, ihr Mann, ihre Theater-AG-Mitspieler, etc.), „wechselt“ sie ihre Identitäten. Meist ist dies funktional. Doch wenn sie durcheinander ist, kann auch schon mal zur Unzeit ein anderer Teil der Persönlichkeit nach außen „rutschen“, und das ist ihr äußerst peinlich.
In der Anamnese ergibt sich: Schon als Kind hat sie sich oft „weggeträumt“ in andere Wesen und Identitäten. Und das musste sie offenbar auch, denn sie schildert, sowohl vom Großvater als auch vom Vater sexuell missbrauch worden zu sein. Niemand half dem Kind, niemand sprach über die namenlosen Schrecken mit ihr, also hat sie, die über eine starke dissoziative Fähigkeit verfügt, sich selbst geholfen und unterschiedliche Ich-Zustände geschaffen, darunter einige, die von der Gewalt nichts wussten, aber durchaus kreative oder auch „heimliche“ Selbst-Anteile verkörperten. Als Erwachsene hadert sie mit dieser Fähigkeit: Jetzt möchte sie lernen, selbst zu bestimmen, welche Teile von ihr nach außen hin sichtbar werden und welche nicht. Und sie möchte zu einer integrierten kohärenten Persönlichkeit zusammenwachsen.
Entstehung der Ego State Disorder
Wie lässt sich die Entstehung einer solchen Ego State Disorder erklären? Frank Putnam, einer der Pioniere der Dissoziationsforschung, beschreibt den Vorgang der gesunden Ich-Entwicklung sinngemäß so (Putnam 1997): Ein Kind kommt mit etwa 7 Ich-Zuständen auf die Welt, von denen drei einfach unterschiedliche Schlafmuster sind und zwei mit der Nahrungs- und Kontaktaufnahme zu tun haben. Beim Heranwachsen - auch sein Gehirn muss ja allmählich wachsen – gerät das Kind zunächst in einen Zustand nach dem anderen, ohne die steuern zu können. Solche Zustände – anfangs nicht mehr als Assoziationsmuster aus Wahrnehmungen und Empfindungen, später kommen Gedanken und Erinnerungen hinzu – vervielfältigen und wiederholen sich.
Ganz allmählich lernt das Kind zwei wesentliche Dinge:
a) Wie es einen unangenehmen Zustand beenden kann – anfangs durch Unmutsäußerungen die „Nöckeln“, Weinen, Schreien, später durch komplexere verbale (Bitten und Betteln, …) und nonverbalen (am Rock der Mutter zupfen, sich selbst trösten, ablenken …) Verhaltensweisen;
b) Wie es einen angenehmen Zustand herstellen und aufrechterhalten kann – anfangs durch Wohllaute, später Lächeln, Lachen (dann lacht auch das Gegenüber! Babys sozialisieren ja durchaus auch ihre Bezugspersonen) sowie nach der Brust greifen, nach Spielzeug greifen, schaukeln, ein Lieblingsbuch anschauen, der Mutter auf den Schoß klettern …
im ICD10 oder DSM IV steht noch nichts davon, die kommenden Diagnostik-Handbücher sollen aber voraussichtlich um diese Form der Dissoziation erweitert werden.
Da anscheinend der allgemeine Glaube vorherrscht, dass man eine dissoziative Identitätsstörung (bzw. multiple Persönlichkeitsstörung) hat, wenn man verschiedene "Anteile" in sich verspürt, die mehr oder minder eigenständig handeln können, möchte ich diesen Auszug aus Michaela Hubers Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 hier posten. Vielleicht kann man den Auszug ja zur Definition hinzufügen - als Ergänzung oder als Anmerkung, dass dissoziative Störungen fließend verlaufen und dass es sehr viele verschiedene Formen gibt?
Liebe Grüße
c.n.
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Ego-States
(S. 126 ff)
Beispiel
Renate Freundlich (Name geändert) kommt zu mir mit der Frage: „Bin ich wohl multipel?“ Und erklärt, dass sie von der dissoziativen Identitätsstörung gehört hat: „Irgend etwas daran trifft auch auf mich zu.“ Nach einer sorgfältigen Diagnostik kann ich sie beruhigen: Nein, sie ist nicht multipel. Doch es ist ganz deutlich: Sie hat sehr verschiedene Anteile in sich und leidet zum Teil erheblich darunter, dass sie „so verschieden ist“. In ihrem Beruf ist sie „ganz die tolle berufstätige Frau“, aber in der Theater-AG, in der auch einige Kollegen sind, „da spiele ich manchmal ganz obszöne Rollen, oder auf derbe Weise den Clown, das ist mir hinterher immer sehr peinlich.“ Bei mir erschein sie manchmal wie ein draufgängerischer, aber charmanter kleiner Junge mit Knickerbockern und Schiebermütze – irgendwie erinnert sie mich dann an den kleinen Jungen auf dem Plakat mit Charly Chaplin als „Tramp“. Ein andermal kommt sie mit zartesten Blüschen, spricht leise und ängstlich wie ein kleines Mädchen. Dann wieder wirken ihre Bewegungen eckig und ungelenk und sie kann „brutale“ Sätze äußern. Immer wieder bricht etwas aus ihr heraus, und sie schildert, dass sie große Mühe habe, die verschiedenen Anteile zu akzeptieren, geschweige denn, sie zu steuern.
Multipel ist sie jedoch nicht, weil sie keine pathologische Alltags-Amnesien hat; sie weiß immer, wann sie in welcher Rolle ist, und mit einiger Konzentration schafft sie es auch, von einem Persönlichkeitsteil zum anderen zu wechseln. „Die kommen eher so aus mir hervor“, sagt sie. „Mit Mühe kann ich es verhindern oder zulassen, aber trotzdem irritiert es mich, und ich frage mich oft: Wer bin ich denn _eigentlich?“
Ein pures Rollenspiel ist es aber auch nicht, denn sie fühlt sich von außen gesteuert: Je nachdem, wer oder was gerade auf sie zukommt (die Chefin, ihr Berufsalltag, ihr Sohn, ihr Mann, ihre Theater-AG-Mitspieler, etc.), „wechselt“ sie ihre Identitäten. Meist ist dies funktional. Doch wenn sie durcheinander ist, kann auch schon mal zur Unzeit ein anderer Teil der Persönlichkeit nach außen „rutschen“, und das ist ihr äußerst peinlich.
In der Anamnese ergibt sich: Schon als Kind hat sie sich oft „weggeträumt“ in andere Wesen und Identitäten. Und das musste sie offenbar auch, denn sie schildert, sowohl vom Großvater als auch vom Vater sexuell missbrauch worden zu sein. Niemand half dem Kind, niemand sprach über die namenlosen Schrecken mit ihr, also hat sie, die über eine starke dissoziative Fähigkeit verfügt, sich selbst geholfen und unterschiedliche Ich-Zustände geschaffen, darunter einige, die von der Gewalt nichts wussten, aber durchaus kreative oder auch „heimliche“ Selbst-Anteile verkörperten. Als Erwachsene hadert sie mit dieser Fähigkeit: Jetzt möchte sie lernen, selbst zu bestimmen, welche Teile von ihr nach außen hin sichtbar werden und welche nicht. Und sie möchte zu einer integrierten kohärenten Persönlichkeit zusammenwachsen.
Entstehung der Ego State Disorder
Wie lässt sich die Entstehung einer solchen Ego State Disorder erklären? Frank Putnam, einer der Pioniere der Dissoziationsforschung, beschreibt den Vorgang der gesunden Ich-Entwicklung sinngemäß so (Putnam 1997): Ein Kind kommt mit etwa 7 Ich-Zuständen auf die Welt, von denen drei einfach unterschiedliche Schlafmuster sind und zwei mit der Nahrungs- und Kontaktaufnahme zu tun haben. Beim Heranwachsen - auch sein Gehirn muss ja allmählich wachsen – gerät das Kind zunächst in einen Zustand nach dem anderen, ohne die steuern zu können. Solche Zustände – anfangs nicht mehr als Assoziationsmuster aus Wahrnehmungen und Empfindungen, später kommen Gedanken und Erinnerungen hinzu – vervielfältigen und wiederholen sich.
Ganz allmählich lernt das Kind zwei wesentliche Dinge:
a) Wie es einen unangenehmen Zustand beenden kann – anfangs durch Unmutsäußerungen die „Nöckeln“, Weinen, Schreien, später durch komplexere verbale (Bitten und Betteln, …) und nonverbalen (am Rock der Mutter zupfen, sich selbst trösten, ablenken …) Verhaltensweisen;
b) Wie es einen angenehmen Zustand herstellen und aufrechterhalten kann – anfangs durch Wohllaute, später Lächeln, Lachen (dann lacht auch das Gegenüber! Babys sozialisieren ja durchaus auch ihre Bezugspersonen) sowie nach der Brust greifen, nach Spielzeug greifen, schaukeln, ein Lieblingsbuch anschauen, der Mutter auf den Schoß klettern …
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