Meine Großmutter

      Meine Großmutter

      Gestern Abend habe ich erfahren, dass meine Großmutter von ihrem Vater missbraucht worden ist. Meine Oma hat etwa 50 Jahre geschwiegen. Vor einigen Wochen hat sie sich meiner Mutter, ihrer Schwiegertochter anvertraut. Seit etwa einer Woche liegt meine Großmutter im Sterben. Ihr 93. Geburtstag steht diesen März an, es ist unwahrscheinlich, dass sie ihn noch erleben wird. Sie war immer eine sehr schwierige Persönlichkeit, ihr Handeln hat viele Menschen verletzt und waren meist schlichtweg nicht nachvollziehbar. Ich habe meine Großmutter selten glücklich erlebt, nie "ehrlich" lachend und wir haben 19 Jahre in einer Wohnung, Zimmer an Zimmer gelebt. Für mich war sie eine egoistische, undankbare und oftmals sehr hinterhältige Frau, die besonders meiner Mutter das Leben oft zur Hölle gemacht hat. Gestern habe ich ein altes Fotoalbum entdeckt, mit Jugendbildern meiner Oma und Fotos aus den kurzen Jahren ihrer Ehe. Ich sah eine lachende, herzliche Frau, eine Frau, der ich nie begegnet bin. Das habe ich meiner Mutter erzählt. Das ich sprachlos bin und für mich die Frage, was diese glückliche, herzliche Frau so verändert hat, nicht zu beantworten ist. Und dann hat mir meine Mutter die Geschichte meiner Großmutter erzählt, die sie auch vor kurzem erst erfahren hat. Meine Oma hat ihren Vater gepflegt, über Jahre. In dieser Zeit hat er sie massiv missbraucht. Sie war als finanziell von ihm abhängig (mein Großvater war einige Jahre zuvor an einer Kriegsverletzung verstorben) und auch emotional an seine dominante Art gebunden. Ich weiß nicht, ob meine Großmutter oder ihre Geschwister schon als Kinder missbraucht wurden. Wie es auch sein mag, seit dem Zeitpunkt, an dem sie ihn zu pflegen begann, fehlt ihr Lachen. Seit diesem Zeitpunkt blickt eine andere Person aus den Fotoalben. Sie hat es erst kurz bevor ihr Körper und ihr Geist ihr entglitten sind geschafft, über diese furchtbaren Erlebnisse zu reden. Und nun sitze ich vor diesen Bildern und sehe die Veränderung. Und es ist zu spät um ihr zu helfen. Auch zu spät um viele Wunden, die sie verursacht hat zu heilen. Aufgrund von Scham, von Not, von Verzweiflung, aufgrund eines Überlebenskampfes, den jeder falsch interpretiert hat, oder falsch interpretieren sollte? Aus dem recht distanziertem Abschied von einer Frau, zu der ich eine sehr ambivalente Beziehung habe ist eine Trauer geworden, eine wütende Trauer um ihr Leben, über ihren geheimen Schmerz. Ich hoffe, dass sie wenigstens jetzt Ruhe findet.
      schon irgendwie arg das sie soo lang geschwiegen hat...
      aber jetzt ist es raus und du hast es noch erfahren und somit verstehst du jetzt ihr verhalten und handeln. also sein dankbar oder versuch es irgendwie positiv zu sehen... und ich weis nicht ob es eine gute idee ist aber du könntest ihr sagen das du froh bist das du es weisst weil du sie verstehst und das du sie ganz arg lieb hast oder so... zumindest glaube ich das ich das bedürfniss hätte mit ihr ehrlich zu reden... und wenn du es nicht tust könntest du es irgendwann mal beräuen...

      ich weis aber nicht ob das eine gute idee ist denn ich kenne ihren zustand nicht und villeicht könnte sich so ein gespräch auf ihre gesundheit auswirken

      lg tina
      Liebe Tina,
      Danke für deine liebe Antwort.
      Ich denke, dass ich meiner Oma zeigen konnte, das ich sie lieb habe. Und ich denke, dass dies für uns beide einfacher geworden ist, seitdem sie über ihre Geschichte gesprochen hat. Auch für meine Geschwister, die etwa 15 Jahre älter sind als ich und für meine Mutter. Das Verhältnis zwischen ihnen ist um einiges komplizierter wie meines und teilweise auch sehr verbittert, aber ich glaube, auch für sie es nun einfacher, sich von ihr "im Guten" von Oma zu verabschieden. Es ist nur so furchtbar traurig, dass wir Oma erst in ihren letzten Tagen verstehen lernen und sie erst jetzt offen sein kann. Ich habe ein Foto von ihr als junge Frau gefunden auf dem sie unheimlich glücklich aussieht und es macht mich traurig und wütend, das ihr so furchtbares angetan wurde und sie so lange allein damit war und durch ihr Verhalten oft keine positive emotionale Bindung hat enstehen lassen. Aber wenigstens kann sie diese Last "zurücklassen", wenn das jetzt auch sehr kitschig klingt.