kleine Geschichte von der Traurigkeit

      kleine Geschichte von der Traurigkeit

      Hier mal ein Text, den mir meine Thera mal in die
      Hand gedrückt hatte. Mir gab er immer mal wieder ein gutes Gefühl.
      Und nun habe ich ihn im Netz gesucht- und für euch gefunden :D
      Hoffe er gefällt.
      LG
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      Eine kleine Geschichte von der Traurigkeit


      Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war
      wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den
      frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei einer
      zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte
      nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien
      fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen
      Konturen.

      Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: "Wer bist du?"

      Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. "Ich? Ich bin die Traurigkeit",
      flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.

      "Ach, die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte
      Bekannte begrüßen.

      "Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.

      "Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des
      Weges begleitet."

      "Ja, aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor
      mir? Hast du denn keine Angst?"

      "Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst
      nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will:
      Warum siehst du so mutlos aus?"

      "Ich... ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.

      Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und
      nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich bedrückt."

      Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören
      wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht.

      "Ach, weißt du", begann sie zögernd und äußerst verwundert, "es ist so,
      dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung; unter
      die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen.
      Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor
      mir und meiden mich wie die Pest."

      Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie
      mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr
      falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt
      sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen:
      Man muss sich nur zusammenreißen. Und sie spüren das Reißen in den
      Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die
      aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich
      mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."

      "Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft
      begegnet."

      Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will
      ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin,
      können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um
      ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut.
      Manches Leid bricht wider auf wie eine schlecht verheilte Wunde, und das
      tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten
      Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen
      wollen gar nicht, dass ich ihnen helfe. Statt dessen schminken sie sich ein
      grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer der
      Bitterkeit zu."

      Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und
      schließlich ganz verzweifelt.

      Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre
      Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte
      zärtlich das zitternde Bündel.

      "Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du
      wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine
      wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr
      an Macht gewinnt."

      Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete
      erstaunt ihre neue Gefährtin.

      "Aber... aber - wer bist eigentlich du?"

      "Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder
      so unbekümmert wie ein kleines Mädchen. "Ich bin die Hoffnung."

      edit: Absätze zur besseren Lesbarkeit

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