die frage nach dem ich und seinem wert (?)

      die frage nach dem ich und seinem wert (?)

      hallo,

      ich tu mich schwer damit, einen titel zu finden, weil ich mein problem und meine frage an euch schwer formulieren kann. es geht um etwas, was mich seit einigen wochen (oder monaten) durch die therapie beschäftigt. ich finde aber kein ende und keinen anfang, deswegen schreibe ich es hier so nachvollziehbar wie möglich auf, mit der bitte um meinungen, einschätzungen und eigene erfahrungen.

      in einer therapiestunde fragte meine therapeutin mich "wer sind sie, wenn sie sich nicht immer mit anderen beschäftigen?".
      die frage klingt so harmlos, aber sie hat in mir was ausgelöst, was ich bisher nicht kannte. das bl*t hat in meinen ohren gerauscht, mir ist abwechselnd der schweiss in strömen runter gelaufen oder ich habe gezittert vor kälte, mir war schwarz vor augen und ich war einfach nicht mehr da. sie hat mich dann mit viel mühe und geduld zurück geholt und es wurde dann auch besser. die woche nach der stunde habe ich zwar irgendwie in einer art trance zugebracht, aber diese heftige reaktion kam nicht nochmal vor.
      aber es lässt mich nicht los und mir wird immer noch ganz anders, wenn ich nur anfange, mich damit zu beschäftigen.

      inzwischen ergeben für mich in manchen hinsichten auch andere probleme, die ich bemerke oder schon angesprochen habe, sinn. mein nahezu nicht existentes selbstwertgefühl, die unfähigkeit, meine meinung zu äußern, wenn mich jemand schlecht behandelt, weil ich mich und mir nicht traue, ob ich dazu berechtigt bin, die mich permanent überrollende verlassensangst, die viel von meinem denken und handeln bestimmt.
      auch meine therapeutin hat die zusammenhänge bestätigt, aber weiter konnte sie mir bisher nicht helfen.

      ich frage mich und jetzt euch: was bestimmt, wer man ist?
      sind es die äußeren merkmale, dass ich studiere, einen freund habe, schwester und tochter bin, in einer wg lebe?
      charaktereigenschaften, die eine liebe freundin für mich aufgeschrieben hat und die ich (für sie) besitze?

      ich finde keinen zugang zu der frage und damit keinen zu mir.
      wer bin ich? ich weiß nicht wie man das beantwortet. mir fällt einfach nichts dazu ein. ich habe einen schwarzen fleck im kopf und er macht mich wahnsinnig, weil ich diese ungewissheit und auch dieses gefühl, keine antwort zu haben, kaum aushalte.

      wenn ich das wüsste, irgendein bild von mir für mich selbst aufbauen könnte, dann könnte ich vielleicht auch irgendetwas finden, dass ich an mir wertschätze. aber momentan ist es einfach ein nichts. diese existenzielle angst, die mich in und noch etwas nach dieser therapiestunde so niedergestreckt hat, die angst, dass ich mich auflöse und kein spiegelbild mehr habe, hat sich zurück gezogen, aber sie ist noch da.

      ich weiß nicht, ob das alles sinn macht und verständlich ist. ich will auch keine pseudointelektuelle, philosophischen fragen stellen, bei denen man denkt "warum beschäftigt man sich damit?". aber vielleicht hat sich jemand darüber schon mal gedanken gemacht, stand irgendwann vor der gleichen frage und hat eine antwort gefunden oder weiß allgemein, nicht auf sich selbst bezogen, irgendeinen ansatz. ich komm alleine momentan nicht mehr weiter.

      ich bin über mehr oder weniger alles dankbar.

      viele liebe grüße,
      pacem.cordium
      Hallo pacem.cordium,

      da ich irgendwann gemerkt hab, dass ich die meiste Zeit des Tages nicht mehr "ich selbst" bin, hab ich mir auch diese Frage gestellt. Und es ist in der Tat nicht leicht herauszufinden, wer man ist und es kann einen auch schnell wahnsinnig machen.
      Für Außenstehende definiert man sich ja über sein Handeln, aber man muss sich nicht zwanghaft damit identifizieren können. Daher bin ich dazu übergegangen mir Gedanken zu machen, wer ich eigentlich sein will. Habe mir überlegt, welche Charaktereigenschaften ich gerne haben will bzw. mit welchen ich mich wohl fühle. Bisher bin ich nicht sehr erfolgreich damit, da meine Meinung hierzu täglich wechselt. Aber ich denke der Weg ist deutlich aussichtsreicher als seine eigene Person in der Vergangenheit zu suchen.
      Es ist auch nicht auszuschließen, dass es in dir drin einen bestimmten Grund gibt, warum es dir so schwer fällt herauszufinden wer du bist. In diesem Fall könnte es eine Art Befreiung von der Vergangenheit sein deinen selbst gewählten neuen Charakter zu leben. Und wenn du denken solltest, dass du dann ja nicht mehr wirklich du selbst wärst, dann mach dir bewusst, dass du dir dein neues "ich" ganz allein geformt hast. Mehr du selbst als das geht fast nicht, wenn man mal genau und intensiv drüber nachdenkt.

      Ein anderer Ansatz wäre dich mal mit dem Aufbau des Gehirns vertraut zu machen, deinem eigenen Bewusstsein mal nicht aus der Gedankenwelt zu begegnen sondern aus der Welt von Neuronen, Nervensystem und Hormonen. Die Vorstellung was da im Kopf gerade vor sich geht hilft oft sich nicht ganz so abwegig zu fühlen.

      Vielleicht hab ich auch einfach schon zu viel nachgedacht, keine Ahnung, aber ich wollte dir einfach nur mal meine Sichtweise aufzeigen und dir einen kleinen Denkanstoß geben.


      Gruß
      Desiderator
      Hallo pacem.cordium,

      nun, ich versuche letzte Erinnerungs-Überreste in Sachen "Sartres Sicht der Existenz" zusammenzuklauben.
      Denn sein Modell gefiel mir damals ganz gut.

      Am Anfang bist du eine Form. Ungefüllt und ungeprägt, leer. Aber auffüllbar.
      Der Prozess des Auffüllens, sprich das Hinzufügen von Eigenschaften, Charakterzügen, Stärken, Schwächen, Erfahrungen, geschieht einerseits durch uns selbst, jedoch auch durch die Sicht anderer, wie sie uns sehen, was sie uns sagen, etc.pp.
      Entscheidend ist der Punkt, an dem man realisiert, dass man selbst eine gewisse Macht darüber hat, mit was die eigene Daseinsform gefüllt wird. Aber eben nur eine gewisse.
      Geht man nach Sartre, kann man sich selbst nicht komplett alleine wahrnehmen. Man ist immer auch das, was die Anderen wahrnehmen.
      Stell dir einen Kreis vor, in dem ein kleinerer Kreis ist. Der kleinere Kreis, das ist, was du von dir selbst warhnimmst, der größere Kreis, das was Andere von dir sehen, wie sie über dich denken, urteilen. Du BIST letztendlich die Menge beider Kreise. Denn deine Existenz ist abhängig von der der Anderen.
      ("mauvaise foi" und so weiter ignorieren wir jetzt einfach).

      Mh, was ich wohl sagen will, dass wir sowohl die Summe aller Teile, als auch mehr als nur die Summe der Teile sind, die uns ausmachen.

      Desiderators Idee mit der Formung eines "neuen Ichs" finde ich sehr interessant.

      Ist es denn so, dass dich momentan hauptsächlich die Frage nach der eigenen Person und ihrer Definition umtreibt, oder auch ein generelles Fragen nach dem Sinn des Seins, etc.?

      Auch auf die Gefahr hin, dass dieser Beitrag nun gar nichts beiträgt,
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      "Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich?
      Wenn ich nur für mich bin, was bin ich?
      Wenn nicht ich, wer dann?
      Wenn nicht jetzt, wann dann?"(Talmud, Hillel) Das hat mir in meiner letzten Stunde mein Therapeut gesagt und ich musste da auch erstmal schlucken.
      Ich versuche dir einfach mal zu erläutern, welche Gedanken ich mir zu dem Thema Ich und Wert gemacht habe. Vielleicht hilft dir das ja.
      Erstmal finde ich es wichtig, dass man von dem Gedanken auf Distanz geht, dass man seinen Wert von anderen zugeschrieben bekommt. Es wird immer irgendwer da sein, der mit einem in irgendeiner Form unzufrieden ist. Und genauso werden andere da sein, die einen aufgrund irgendwelcher Eigenschaften ganz toll finden. Nur wem glaubt man dann?
      Aber ist es überhaupt wichtig, dass man sich entscheidet zwischen "Ich bin etwas wert, weil andere das so sehen" oder "Ich bin nichts wert, weil andere das so sehen"?
      Ich denke nicht.
      Hm. Ich unterscheide z.B. auch zwischen "Ich" und "Selbst". Ich oder das Ego, das sind für mich unter anderem die vielen materiellen, sichtbaren Dinge.
      Dicken 3er fahren, in der Muckibude rumprollen (nichts gegen normales Training), Dinge kaufen um damit andere zu beeindrucken - das ist alles Egopflege pur.
      Mein Selbst macht sich nicht an äußeren Dingen fest. Es ist da, es ist weder gut noch böse und vor allem kann es niemand bewerten.
      Letztlich muss man sich wohl dafür entscheiden, was man selbst sein will.
      Du bist, was du sein willst.

      Vielleicht könnte es dir helfen, dich in verschiedene Bücher zu dem Thema einzulesen. Dir einfach mal anzuschaun, was z.B. verschiedene Religionen und Philosophien zu dem Thema sagen.
      Mir hat das geholfen. Aber ich stelle mir die Frage eigentlich von Tag zu Tag neu, wer/was ich sein will.
      Für mich lag die Antwort in der Frage nach dem eigenen Willen. Dort muss sie aber nicht für jeden liegen.
      Irgendwie hat sich damit auch die Frage und der Schmerz bezüglich des Selbstwertes gelöst.
      Meditative Techniken könnten dir evtl. auch helfen.
      Im Zen ist es so, dass man einfach sitzt. Zazen bedeutet sitzen als man selbst (auch Sitzen als Buddha, weil jeder Mensch das Potential dazu innehat).
      Da gibt es wirklich ganz viel, was man an Techniken üben kann, um mit dieser Frage ins Reine zu kommen.

      Ich hoffe, ich konnte dir wenigstens ein bißchen helfen und es liest sich nicht allzu konfus. ;)
      Irre explodieren nicht, wenn das Sonnenlicht sie trifft! Ganz egal, wie irre sie sind!
      hej,

      mhm, habe diesen thread gerade eben erst gefunden, aber anscheinend warst du seitdem ja auch nicht mehr hier ;)

      ich finde den ansatz ganz gut zu fragen, was man sein will, wie man sein will. ich denke, selbstwertgefühl - also das gefühl für den wert, den man selbst hat - verändert sich. es gibt phasen, da ist es ganz wichtig was die anderen sagen, es gibt phasen, da will man gerade dort anecken, und letztlich läuft es wohl darauf raus, dass man sich überlegt, was finde ich gut, also welches verhalten, welche werte, welches auftreten mag ich an mir, an anderen? was macht für mich "wert" aus. das bildet sich aus dem, was man mitbekommen hat, aber auch aus dem, wie man denkt, welche überzeugungen man sich so gebildet hat und dann reicht es natürlich weit in die zukunft, wenn man sich fragt, wie will ich leben.

      ich fühle mich zum beispiel gleich viel besser, wenn es mir gelingt, das zu sagen was ich denke. natürlich gut verpackt, aber ich merke einfach mehr und mehr, dass ich nicht weiterkomme, wenn ich denke "das kannste jetzt aber echt nicht bringen", dann fühle ich mich hinterher rückgratlos, weil ich nicht gesagt habe was ich von etwas halte und das tut mir nicht gut. aber das heißt nicht, dass ichs einfach kann - also übe ich courage, nicht weil das so pillepalle für mich ist, sondern weil es mir ohne nicht gut geht, weil ich dann merke, wie ich in meinen augen an wert verliere.

      das ist so ein bisschen auch ein kämpfen. ich mag ja hesse nicht [mehr] so sehr gerne, aber einen satz von ihm hab ich nie vergessen: "wer geboren werden will, muss eine welt zerstören." da ist was dran - so wie man sich wirklich toll fände, wird man oft erst, wenn man viel kraft und energie investiert, um dinge in den griff zu krigen, muster zu sprengen und sich zu überwinden.

      bei dir seh ich so ein bisschen ein "pfund" darin, dass du schon so früh für andere da sein musstest, zu einer zeit, als du eigentlich nur kind und nur mit dir selbst hättest beschäftigt sein sollen. ich denke, dass es dir deswegen vielleicht schwerer fällt, dich unabhängig von anderen zu definieren. [wobei man sich ja eh immer in relation zu anderen definiert]. aber das wird kommen. was andere von dir denken trägt dazu sicher etwas bei - man fragt sich ja, ist da was dran und wenn ja, find ich das gut oder schlecht? -, und auch die rollen [studentin, schwester, tochter, freundin...], die du im moment hast, tragen etwas bei. aber viel wichtiger ist, wie du selbst dir in die augen schaust: stolz oder unzufrieden. du bist sicher anderen etwas wert - aber das defnieren die letztlich für sich. was du dir wert bist, das entspricht ganz allein deiner messlatte.

      lg
      solaine
      "But isn't that life for us all? Trusting to luck?"
      "You can always try to give luck a helping hand", she said.
      //william boyd//