unhappy

      Jeden Morgen wache ich nicht auf. Ich wache nicht auf, weil das Haus abgebrannt ist oder ich im Schlaf erstochen und im Wald vergraben worden bin oder ein Herzinfarkt mich niedergestreckt hat. Ich wache nicht auf und ziehe mich an. Auf dem Weg ins Bad stolpere ich zwei mal und breche mir wahlweise ein Bein oder einen Arm, und als ich im Bad ankomme, lauert jemand mit einem Gewehr hinter dem Duschvorhang. Mein Blut färbt die Fliesen rot. Danach gehe ich in die Küche und ziehe mir einen lebensbedrohlichen Stromschlag am Toaster zu. Mein Toast bestreiche ich mit Nutella, die im Supermarkt vergiftet worden ist. Während mein Herz immer langsamer schlägt, ersticke ich an dem Toastbrot. Als es Zeit wird, zur Uni zu fahren, explodiert der Bus. Vier Mal. Im Hörsaal angekommen, ist niemand da, weil alle von einer tödlichen Epidemie dahingerafft worden sind. Auch ich huste. Als ich zurück zum Bus gehen will, bemerke ich Gasgeruch in der Luft. Kurz darauf explodiert eine Lampe über mir, was ich glücklicherweise nicht mehr mitbekomme, weil ein plötzlich auftretender Schlaganfall mir die Sicht nimmt. Stolpernd schaffe ich es zurück nach Hause, auch, wenn ich dabei von einigen Autos angefahren worden bin. Völlig erschöpft lege ich mich wieder ins Bett. Mein Herz klopft.
      We will get better
      Heute ist es so weit. Paul, mein bester Freund seit Kindheitstagen, wird sterben. Meinetwegen. Oder vielleicht eher meiner Eltern wegen, denn letztendlich ist es ihre Schuld. Von Anfang an haben sie mich an den Nachbarsjungen gehängt, was ich gemacht habe, habe ich mit ihm gemacht. Aber nun soll es um mich gehen. Ich möchte frei sein von meinen Eltern, und das geht nur durch Paul. Wenn er nicht mehr ist, lassen sie mich endlich, endlich in Ruhe. Ich habe lange überlegt, ob es nicht einen anderen Weg gibt, aber um mich zu retten, muss Paul sterben.

      Ich mache mir Sorgen um meinen Freund. In letzter Zeit scheint Timo rastlos, reizbar und müde. Ich glaube, er schläft schlecht. Seine blasse Haut und sein Kaffeekonsum sprechen dafür. Gleichzeitig scheinen seine Augen permanent aufgerissen, als würde ihn etwas erschrecken. Timo geht nicht mehr raus. Nicht einmal aus seinem Zimmer. Das weiß ich, weil seine Eltern mich angerufen haben, um zu fragen, was mit ihm los sei. Mit ihnen spricht er nicht. Mit mir immer weniger. Er geht oft nicht an sein Telefon oder wenn, flüchtet er sich in Ausreden, warum er keine Zeit für mich hat. Aber heute werde ich ihn treffen, und ich werde ihm meine Hilfe anbieten.
      Als ich an der Tür klingle, macht er mir selbst auf. Das wundert mich, hat er doch sonst immer in seinem Zimmer auf mich gewartet. Meistens war die Tür nur angelehnt. Er umarmt mich herzlich und lacht, als er mich sieht.

      Ich kann es noch gar nicht glauben. Heute ist endlich der Tag gekommen, an dem ich frei sein werde! Die Freude darüber holt mein verloren geglaubtes Lachen zurück. Umso besser, Paul hatte mich schon einmal darauf ansprechen wollen. "Möchtest du etwas trinken?", frage ich ihn. Er nimmt ein Wasser. Schwungvoll fülle ich sein Glas - vielleicht etwas zu schwungvoll, denn ich zerschlage es mit dem Flaschenhals.

      Ich bin verwirrt. Im ersten Moment habe ich mich gefreut, dass es Timo besser geht. Aber war das nur eine Täuschung? Bei der Umarmung habe ich seinen Herzschlag gespürt. Er wirkt fahrig. Ist das alles nur Show? Nun gut, ich spiele mit. Frage, was er den ganzen Tag macht, wie es seinen Eltern geht, erzähle von meinem Job. Wir lachen viel. Dennoch fällt mir auf, dass Timo mich nie richtig ansieht. Immer schaut er auf einen Punkt knapp unter meinem linken Auge.

      Es macht mich verrückt, wie Paul erzählt. Und vor allem was er erzählt. Er lebt und lacht mit jeder Faser seines Körpers. Aber ich weiß genau, dass er bald ruhig sein wird. Totenstill. Nein. Es muss jetzt passieren. Lange halte ich sein Sein nicht mehr aus.

      "Hey", sagt Timo, "kannst du kurz in den Keller gehen? Da ist irgendwo noch Cola. Du weißt doch, ich gehe da nie runter. Aber eine kalte Cola wäre jetzt genau das richtige... Du kennst dich doch eh aus." Vielleicht habe ich mich doch getäuscht. Es war schon früher immer so, dass Timo den Keller gehasst hat. Deshalb bin ich auch immer runter gegangen und kenne ihn beinahe besser als meinen Keller. Und eine Cola könnte tatsächlich nicht schaden, um der alten Zeiten Willen. Früher, als unsere Eltern uns noch verbieten konnten, das Zeug zu trinken, war Cola das Symbol unserer Freundschaft. Ein Geheimnis, das verbindet. Bis heute, auch, wenn wir schon lange selbst entscheiden, was wir zu uns nehmen. Ich gehe also in den Keller.

      Kurz genieße ich die Ruhe. Natürlich ist keine Cola im Keller. Was da ist, ist ein Gasleck. Kohlenmonoxid. Ein Gift, dass sich dort in so hoher Konzentration befindet, dass schon wenige Minuten nach dem ersten Einatmen der Körper nicht mehr genug Sauerstoff zum Überleben hat. Nach einigen Sekunden schleiche ich Paul auf leisen Sohlen hinterher. Sobald er durch die Kellertür gegangen ist, werde ich sie abschließen. Dann kann ich endlich durchatmen - in sauerstoffreichem Raum, versteht sich. Ich habe viel über Kohlenmonoxid gelesen. Die roten Blutkörperchen nehmen es anstelle von Sauerstoff auf und transportieren es zum Herzen, das damit natürlich nichts anfangen kann. Durch die mangelnde Versorgung des Gehirns wird der Betroffene ohnmächtig und erstickt schließlich.

      Ich öffne die schwere Kellertür und mache das Licht an. Schnell suche ich den ersten Raum nach dem auffälligen roten Kasten ab, kann ihn jedoch nicht entdecken. Plötzlich bemerke ich ein heftiges Pochen in meinem Kopf. Das Zufallen der Kellertür klingt beinahe wie eine Explosion. Gleichzeitig wird mir schlecht. Habe ich vielleicht heute morgen etwas Falsches gegessen? Ich sollte gleich schnell an die Luft gehen. Als ich in den Nebenraum gehen will, muss ich mich an der Wand abstützen. Was wollte ich noch einmal hier? Plötzlich kann ich mich nicht erinnern. Ich muss raus hier. Aber wo bin ich hergekommen? Orientierungslos stolpere ich durch den Raum, mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Endlich an einer Tür angekommen, drücke ich die Klinke runter. Nichts passiert. Abgeschlossen.

      Von der anderen Seite der Tür aus kann ich Paul nur leise hören. Er bewegt sich schwerfällig, mehrmals höre ich ihn an die Wand schlagen. Schließlich ein lautes Rumsen an der Tür: er muss in Ohnmacht gefallen sein. Zufrieden gehe ich wieder hoch. Im Kühlschrank steht noch Cola. Dieser Moment muss gefeiert werden.
      We will get better
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