Plötzlich holt es mich ein..

      Plötzlich holt es mich ein..

      Hallo ihr Lieben,

      ich muss vorweg sagen, es fällt mir nicht leicht, darüber zu schreiben, weil ich noch nie darüber geschrieben, geschweige denn gesprochen, habe und ehrlich gesagt habe ich all die Jahre noch nicht mal darüber nachgedacht, sondern jeden Gedanken weit weit weggeschoben.

      Aber es holt mich ein. Die Gefühle, Wut.
      So viel Wut, für die ich mich so sehr schäme. Ich schäme mich, dass ich Gefühle deshalb empfinde.

      Ich bin ein Mensch, der nicht viel aushält. Ich bin nicht stark, ganz im Gegenteil, und das weiß ich, auch wenn ich mich wirklich immer bemühe, stark zu sein. Aber meine Grenze dessen, was ich ertragen kann, ist schnell erreicht.
      Ich bin jemand, der in verzweifelten Situationen getröstet werden muss, Halt braucht, Zuwendung, wie ein kleines Kind komme ich mir vor, um das man sich kümmern muss. Ein bisschen Trost, ein bisschen Liebe, dann geht es wieder besser.
      Natürlich kann nicht immer jemand für mich da sein. Aus allen möglichen Gründen, weil diejenigen nicht wollen - schließlich bin ich kein kleines Kind mehr! -, weil sie es lächerlich finden, ...
      Aber dann tröste ich mich selbst. Ich kann das kaum schreiben, weil ich mich so sehr dafür schäme, für dieses Selbstmitleid. Selbstmitleid, der abwertende Unterton, den Selbstmitleid hat, das ertrage ich nicht, deshalb darf das niemand wissen. Niemand.

      Um mich hat sich keiner gekǘmmert. Als ich ein Kind war, war mein Vater nicht da. Ich hatte nie einen Bezug zu meinem Vater, ich kann bis heute kein normales Gespräch mit ihm führen, aber das ist ein anderes Thema. Meine Mutter war krank, Burnout, Depressionen und keine Ahnung was noch.
      Ich habe das nie jemandem erzählt, die Krankheit meiner Mutter war immer ein großes Tabuthema und früher auch nicht "schlimm" für mich.
      Sie lag da auf ihrem Sofa, und natürlich habe ich gemerkt, dass etwas komisch ist, aber niemand hat mit mir geredet, mich aufgeklärt, wenn ich gefragt habe und ich habe oft gefragt. Ich hab es gar nicht verstehen können, das macht mich so verdammt wütent! Und das war ich auch auf sie, mich konnte keiner auf einen Geburtstag fahren oder zu Freunden oder im Sommer ins Schwimmbad. Niemand hat etwas mit mir unternommen, sich in all den Jahren mit mir beschäftigt. Niemand hat mit mir Hausaufgaben gemacht oder ist mit mir auf den Spielplatz gegangen. Wieso, das wollte mir niemand sagen! Nicht mal ein "Mama ist krank und kann sich nicht um dich kümmern", nein nichts. Sie lag da nur und jeder tat als wäre alles normal.
      Niemand hat sich um mich gekümmert wenn es mir schlecht ging, ich habe jeden jeden Tag geweint. Jeden Tag, fast jede Nacht. Wie hätte ich das überstehen sollen ohne dieses verpöhnte widerwärtige Selbstmitleid? Jahre lang war ich selbst meine einzige Bezugsperson.

      Das allerschlimmste ist, dass ich es damals nicht schlimm fand. Ja, klar war ich wütent, dass sie da so rumlag und ich nichts mit Freunden unternehmen konnte, weil mich niemand irgenwo hinbrachte. Aber außer dieser Wut war es nicht schlimm.
      Jetzt ist es aber schlimm für mich, obwohl das vorbei ist, obwohl ich nicht mehr das kleine Kind bin. Mich zerfrisst es so sehr, ich brauche Halt, Bezug, möchte jemanden haben, der sich um mich kümmert, mich lieb hat, wo es mir doch so schlecht geht. ;( Nicht weil ich "Mitleid" erregen will, sondern weil es mir hilft, weil es danach wieder ein bisschen besser geht.

      Ich schäme mich dafür, dass ich so ein Verlangen habe, und für die Wut, obwohl ich weiß, dass ich auf meine Mutter nicht wütent sein darf, weil auch sie krank ist.
      Aber es zerfrisst mich in letzter Zeit so sehr, als durchlebe ich jetzt all die Gefühle, die ich damals nicht hatte.

      Danke an alle, die sich die Zeit genommen haben, das bis hier zu lesen. Ich weiß nicht, was für Antworten ich mir erwarte, aber ich möchte euch noch bitten, bitte keine allzu negative Kritik an meinem Selbstmitleid zu äußern, ich habe zur Zeit wirklich kein dickes Fell und für mich ist das ein sehr sehr schwieriges Thema.

      Liebe Grüße,
      verzweifelte Despereaux
      “Have i gone mad?” - “I’m afraid so. You’re entirely bonkers. But I’ll tell you a secret. All the best people are.”
      (Alice in Wonderland)

      Hallo Despereaux,

      ich weiß nicht, ob ich dir mit dem, was ich jetzt schreibe, weiterhelfen kann, aber ich möchte trotzdem mal meine Gedanken äußern:

      Jedes Kind braucht Liebe und Zuwendung. Wenn es die nicht bekommt, entwickelt es seine eigenen Techniken, um sie zu bekommen. Du hast dir selbst versucht Liebe, Halt und Zuwendung zu geben.
      Dass du das heute noch machst, ist nromal, denn du hast es nie anders "gelernt". Und was man nicht gelernt hat, kann man auch nicht von heute auf morgen lernen.
      Ich kann deine Scham verstehen, aber auch wenn es klischeehaft, oder blöd klingt: Du musst dich dafür nicht schämen. Das ist eine Handlung, die aus deinen Erfahrungen hervorgeht und die für jemanden wie dich völlig normal sind. Für dich war diese Taktik eine Überlebensmaßnahme, denn kein Mensch, besonders kein Kind kann ohne Liebe, Zuwendung und Halt über längere Zeit leben.
      Du hast etwas Gutes für dich getan. Dein Selbstmitleid ist keineswegs etwas Schlechtes. Es hat dir geholfen, hat dich etwas aufgebaut und dir den Halt gegeben, den du von niemandem bekommen hast. Und das ist wirklich nichts, wofür du dich schämen musst, ich finde ganz im Gegenteil: Du kannst stolz auf dich sein, dass du diese Strategie genutzt hast und durchgehalten hast!

      Liebe Grüße,

      hopelessgirl94