Elfenspiegel

      Elfenspiegel

      Los deines Lebens

      Deine Freude am Leben geht zurück und du fragst dich, was passiert mit dir? Das Gefühl wächst in dir, unaufhaltsam, von Tag zu Tag, wird
      immer größer, wie ein überdimensionaler Baum. Du wirst ... lustlos

      Du fragst dich: wie kann ich dagegen angehen? Du zermarterst dein Gehirn, suchst nach Antworten auf deine Fragen, versuchst all
      deine Kenntnisse einzusetzen, Antworten zu finden und stellst fest, du bist ... gedankenlos

      Wie sollst du dein Leben in die Hand nehmen? Wofür lohnt es sich zu leben? Wohin soll ich gehen ... ziellos

      Es fehlen dir die Worte, dich auszudrücken, dich mit deiner Umwelt in Verbindung zu setzen. Du möchtest sagen, wie es dir geht und was dir
      fehlt. Du möchtest fragen: was kann ich dagegen tun? Wer kann mir helfen? Aber du fühlst dich nur ... wortlos

      Der Kampf, nicht von dieser Erde runter zu fallen, kostet all deine Kraft. Deine Freunde wollen nur dein Lachen. Du spürst, wie deine
      Arme langsam erlahmen. Wie sollst du dich festhalten ... kraftlos

      Du spürst, wie die Traurigkeit deine Kehle zuschnürt. Du willst schreien, deine Gefühle, deine Ohnmacht herausschreien; herausschreien: deine
      Angst, deine Gefühle, deine Traurigkeit ... hilflos

      Langsam steigt in dir die Lähmung auf, dringt durch alle deine Glieder, belegt jeden deiner Gedanken. Wie kannst du die Starre
      aufhalten; aber du fühlst dich ... reglos

      Deine Gedanken kreisen und kreisen und kreisen. Überall suchen sie nach Zeichen, Zeichen, die dir eine neue Richtung signalisieren,
      eine Richtung aus all deinen Gedanken. Du stellst sogar dich in Frage, wenn der Weg nur herausführt ... ausweglos

      So bewegst du dich durch die Straßen, schaust in all die beleuchteten Fenster und spürst, wie dein Gefühl dir die Kehle zuschnürt.
      Laufen möchtest du, nur weg aus diesem Teufelskreis, in dem du dich fühlst. Du bekommst keine Luft mehr ... atemlos

      Langsam sinkt das Barometer deines Lebens nach unten. Irgendwann muss es doch einmal stehen bleiben, muss dieses Absinken doch zu Ende
      sein. Wo darfst du sein ... hoffnungslos

      Nur ein Weg scheint noch da für dich, den zu gehen dir noch übrig bleibt. Aber selbst den kannst du nicht gehen, denn du bist schon ... leblos
      Dein Leben

      Du glaubst, du hast dein Leben im Griff.
      Du stolperst, einfach wieder aufstehn.

      Doch plötzlich ist alles über dir,
      drückt dich platt, drückt dich hinunter.

      Du spendest anderen deinen Lebensbrunn,
      aber selbst verdurstest du für immer.

      Hohläugig schaut er dich an dein Geliebter,
      streicheln will er dich mit seiner knochigen Hand.

      Du fühlst die liebende Kälte seines Atems,
      süß und kalt erlöst er dich von der Pein.

      Nur noch sehn willst du der Sonne wärmende Strahlen,
      doch verbrennt dich ihre leuchtende Flut.

      Gewesen, für immer gewesen,
      zur Erlösung derer, die du geliebt.
      Liebe ist ...

      Ein großes Wort, es ging um die Welt.

      Dichter haben sie in vielfältigen Varianten beschrieben
      und stellten immer wieder fest: es ist unmöglich.

      Kein Wort hat diese Vielfalt,
      ist mit dem Schicksal des Menschen so verbunden.

      Sie hat viel Spuren hinterlassen.

      Zwei Menschen empfinden sie füreinander
      und letztendlich gibt es keine Garantie.

      Alles wollten sie miteinander teilen,
      jeden Weg gemeinsam gehen.

      Heute gehen viele Wege auseinander und vorbei.

      Und doch ist sie ein unbeschreibliches Gefühl,
      wenn sie das erste Mal an deine Tür klopft.

      Flammen schl*g*n über dir zusammen,
      sie verbrennen dich ohne dich zu verbrennen.

      Selbst zerstören kann sie dich, die Liebe.

      Doch meint sie es immer nur gut mit dir,
      sie liebt dich, die Liebe.

      Ist sie groß genug,
      kann sie dich loslassen;
      loslassen ohne zu v*rl*tz*n und weh zu tun.

      Liebe ist nur ein Wort,
      ist Höhe und Tiefe,
      ist Sonne und Regen.

      Gott, sagt man, liebte die Menschen,
      er gab seinen Sohn, sein Leben.

      Liebe ist verbunden mit dem Leben.
      Neues Leben entsteht und ist unterworfen
      diesem Kreislauf.

      Wahre Liebe ist, den anderen seinen Weg gehen zu lassen,
      ihm nichts aufzuzwingen,
      ihn zu begleiten.

      Gemeinsam mit ihm zu erleben,
      ist ein großes Glück.

      Ein Moment, den festzuhalten, die Mühe lohnt.
      Sie wird vielleicht nie wiederkehren.

      Liebe – so vielfältig wie die Worte ist das Gefühl.

      Liebe ist, wenn man am Ende sagt,
      die Zeit mit dir war nicht vertan.
      Du willst fliegen

      Immer kreisen deine Gedanken darum,
      aus diesem Tal auszubre*ch*n,
      endlich den Weg zu deinem Licht zu finden.

      Dunkel sind die Augen,
      dunkel das Bild, das du siehst.
      Ist die Welt so dunkel um dich?

      Du reibst dir die Augen.
      Du willst sie wegwischen,
      die grauen Wolken der Traurigkeit.

      Aber da ist nichts zum Wegwischen.
      Haben sich deine Augen verändert?
      Hat die Welt sich verfärbt?

      Alle erzählen von bunter Welt,
      von bunten Blumen, die blühen.
      Verdorrtes Gras wohin die Seele reicht.

      Du kannst die Arme nicht heben.
      Wie soll da Fliegen gehen.
      Die Seele so schwer wie ein Fels.

      Und alle sehn in dir lustig,
      vergnüglich das Lachen der Augen.
      Die Maske des Scheins, nur Blendwerk.

      Ikarus flog hoch und verbrannt.
      Deine Seele Asche und Staub.
      Deine Gedanken Staubkörner im All.

      Begrabe dich und deine Seele,
      weine um sie und trauere,
      werde zu Staub auf ewig.
      Es war einmal ein Bär
      Quelle: unbekannt

      der war lange Zeit bei einem Zirkus. Eine "Bärennummer" gab es bei diesem Zirkus jedoch nicht, so dass er tagaus, tagein in seinem Zirkuswagen war, wo ihn die Leute betrachtet haben. In so einem Zirkuswagen ist wenig Raum, so dass der Bär sich nicht recht bewegen konnte. Jahrelang konnte er immer nur zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück, zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück ...

      Schließlich löste sich der Zirkus auf, da er den Zuschauern nicht mehr genügend zu bieten hatte. Die Artisten verstreuten sich in alle Richtungen, das Inventar wurde verkauft und natürlich auch die Tiere. Der Bär wurde an den Zoo der Stadt gegeben, in der der Zirkus sich damals gerade aufhielt. Hier kam er in ein großes, freies Gehege, in dem auch eine Reihe anderer Bären waren. Der Zirkusbär stellte sich in eine Ecke und ging dort zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück, zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück ...

      Nachdem die anderen Bären sich das eine Zeitlang angeschaut hatten, kamen sie auf ihn zu und sagten: "Das verstehen wir nicht! Hier ist doch so viel Platz, und du bist immerzu damit beschäftigt, zwei Schritte vor und zwei Schritte zurück zu gehen. Kannst du uns das erklären?"

      Der Bär antwortete: "Das kommt, weil ich so lange eingesperrt war!"


      Über diese Geschichte könnte man in's Nachdenken kommen.
      Zeilen des Seins

      Leere Gesichter schauen dich an.
      Speeren gleich versuchen sie
      mit leeren Augen durchbohren.
      Leere Blicke steuern die Pfeile,
      von leeren Worten getragen.
      Ihre leeren Gedanken zu äußern
      aus der Quelle ihrer leeren Gehirne.

      Leere Hände recken sich
      dir entgegen, dich aufzunehmen
      Tentakeln gleich in ihre leeren Armen.
      Leere Brüste warten auf dich
      wo leere Herzen schl*g*n.
      Ihre leeren Gefühle dir zu vermitteln,
      wo leere Phrasen nicht reichen.

      In leeren Betten wälzen sie
      Leere Geliebte neben sich,
      leere Sätze gestammelt.
      Hilflose Gesten fluten den Raum,
      wo leere Texte sonst prangen.
      Leere Versprechungen säuseln das Ohr,
      verklingen wie leere Lieder.

      In ihren leeren Autos durchstreifen sie
      leere Straßen, wo keiner mehr wohnt.
      Von leeren Häusern flaniert
      verbergen sie die Leere der Städte.
      Gezeichnet in leeren Landschaften,
      Bruchstücke von leeren Ländern
      sind Boten sie einer leeren Welt.

      Tische mit leeren Schüsseln bedeckt,
      die leeren Bäuche mehr füllen.
      Leere Tische und leere Schränke
      verschwenden das leere Zuhause.
      Zeichen des Lebens aus leeren Taschen gefüllt.
      Leere Zigaretten küren die Nacht
      leere Flaschen den Tag.

      Leere Flugzeuge durchkreuzen das Blau
      wo leere Züge verbanden.
      Wie Spinnennetze aus Fäden so grau
      Lebensgespinste aus leeren Wegen.
      Leere Bomben verbessern die Welt
      dich leitend aus dem leeren Sein
      in die Leere des ewigen Alls.

      Leere Worte aus leerem Gehirn,
      geschrieben von wem auch immer
      fließen auf leeres Papier.
      Leerer Zeilen aus leerem Verstand
      Leerer Klang und leerer Sinn
      füllen den leeren Raum.
      Frei nach Momo

      Momo: Warum hat Gott so viele Wege gemacht?

      Damit jeder Mensch seinen Weg finden und ihn gehen kann. Und Kreuzungen sind da, wo sich Menschen treffen.

      Momo: Ja. Und nach einer Weile des Nachdenkens - aber irgendwo treffen sich doch alle Wege.

      Ja, weil kein Weg ohne den anderen sein kann. Jeder Weg fängt an einer Stelle an und hat auch sein Ende. Das ist dann wie bei den Menschen: sie werden geboren, das ist ihr Anfang.Dann gehen sie ihren Weg, treffen auf andere Wege, wo andere Menschen gerade gehen. Und haben dann auch ein Ende.

      Momo: Was ist aber, wenn der eine Weg an einer Kreuzung endet?

      Dann verlaufen die Wege gemeinsam. Es gibt dann nicht den einen oder den anderen Weg. Es gibt dann nur den gemeinsamen Weg.

      Momo: Und was sind die Parkplätze?

      Wenn du eine lange Weile unterwegs bist, wirst du müde werden, weil der Weg lang und staubig ist, weil er vielleicht durch eine öde Landschaft führt, wo
      keine Blumen wachsen, wo keine Häuser am Weg stehen, in denen man sich ausruhen kann. Man braucht auf seinem Weg Plätze, an denen man sich ausruhen kann.

      Momo: Und wenn man dann eine Weile ausgeruht hat, dann kann man seinen Weg wieder weiter gehen.

      Ja.

      Momo: Warum haben manche Wege Kurven und andere verlaufen wieder ganz gerade?

      Was meinst du, weshalb?

      Momo nach einer Weile des Nachdenkens: Weil die Wege der Menschen auch nicht immer gerade sind und einfach so vom Anfang bis zu ihrem Ende verlaufen. Sie müssen sich manchmal anpassen, um vielleicht um einen Berg herumzukommen oder eine Stelle suchen, um ein tiefes Tal zu überqueren.

      Genau.

      Momo: Und dann können sie ja wieder ein Stück gerade verlaufen, wie bei den Menschen.

      Momo: Warum hat Gott dann Kreuzungen mit mehreren Straßen geschaffen?

      Die Kreuzungen sind wie Familien. An dieser Stelle beginnen neue Wege oder es enden manche Wege. Bei den Menschen werden auch Kinder geboren und es st*rb*n Menschen.

      Momo: st*rb*n auch Kinder?

      Ja. Manche Wege werden erst gar nicht zu einer größeren Straße, sondern bleiben ein kleiner Weg. Und der kann dann auch plötzlich enden. So ist das auch mit Kindern. Sie können st*rb*n.

      Momo: Was machen dann die Menschen, wenn ihre Kinder st*rb*n?

      Sie sind lange Zeit sehr traurig. Es ist so, als ob ihr Weg eine Zeit lang durch eine Wüste führt. Irgendwann aber ist diese Wüste zu Ende und ihr Weg
      führt dann wieder durch Landschaften mit Bäumen und Blumen, mit Tieren und Menschen. Die Wüste war für eine Zeit lang ein wichtiger Bestandteil ihres
      Weges. Ohne die Wüste wüssten die Menschen nicht, wie wertvoll und kostbar Blumen und Bäume, Wiesen und Wasser, Tiere und andere Menschen sind. Die Erinnerung wird bleiben und mit ihr Alles, was diesen Weg gemacht hat.

      Momo: Wie bei den Menschen.

      Momo: Können Menschen auch andere Wege gehen?

      Sie können ihren Weg verlassen und andere Wege gehen. An einer Kreuzung beispielsweise: Sie können diese einfach überqueren und auf ihrem Weg bleiben. Oder sie können abbiegen auf den neuen Weg. Dann wird dieser neue ihr Weg.

      Momo: Und wenn sie merken, dass es ein falscher Weg war?

      Dann können sie ihn weitergehen, bis sie wieder an eine Kreuzung kommen und dort abbiegen. Oder sie gehen den Weg zurück bis dahin, wo sie abgebogen sind. Dann können sie dort einen anderen Weg einschlagen.

      Momo: Jeder kann also entscheiden, welchen Weg er geht. Wenn er merkt, dass es ein falscher Weg ist, so kann er ihn ändern. Ist es das, was du meinst? Ist das nicht sehr schwer?

      Wege ändern kann sehr schwer sein. Und selbst wenn eine ganz ordentliche Straßenbaufirma alle Steine des Weges entfernt und an diese Stelle wieder
      Blumen pflanzt und Sträucher setzt, wirst du sehen, dass da ein Weg war. Er hinterlässt Spuren, die man sehen kann.

      Momo: Und die Wegweiser mit dem Hinweis auf die Richtung, in die die Straße führt, sollen den Menschen helfen, ihren Weg und ihre Richtung zu finden.

      Ja.

      Momo: Wäre es nicht auch geschickt, wenn alle Wege gleich breit und gleich leicht wären? Dann hätten alle Menschen die gleichen Chancen auf ihrem Weg.

      Die gleichen Chancen hätten sie. Aber die Menschen sind zu unterschiedlich. Deshalb sind auch ihre Wege unterschiedlich. Jeder Weg passt zu einem Menschen.

      Momo: Können Menschen Wege verändern?

      Menschen können ihren Weg langsam gehen und aufmerksam alles wahrnehmen, was an ihrem Wegesrand ist. Sie können aber beispielsweise auch ihren Weg rennen oder sogar mit einem schnellen Auto fahren.

      Momo: Dann kriegen sie doch aber nicht sehr viel mit von ihrem Weg.

      Und sie können neue Wege bauen oder alte Wege verändern. Damit ändert sich dann auch ihr Weg.

      Momo: Aber sie sollten nur ihre Wege ändern. Wenn sie die Wege der Anderen verändern oder sogar kaputt machen, dann haben die anderen Menschen ja keinen Weg mehr.

      Momo: Es wäre schön, wenn alle Menschen einen schönen und abwechslungsreichen Weg hätten, den sie gehen könnten.

      Momo: Und wenn sie am Ende an ihr Ziel gelangen.

      Ein Weihnachtsmärchen - Teil 1

      Eine Geschichte ...

      Es war einmal ..., ja? Was war einmal? Doch lasst uns die Geschichte von vorne beginnen.

      Es war einmal ein Tag - ja so ein Tag, du weißt schon, wie es ihn viele gibt. An diesem Tag lag etwas Besonderes in der Luft; ein Duft, ein Hauch vielleicht, ein Ton, ein Licht.

      Vielleicht fühlst du ihn ... diesen Tag, fühlst, dass er dir etwas sagen will, das vor dir steht, so ... als ob du es anfassen kannst. Du siehst es förmlich, es ist da. Du hörst es, es klingt überall. So ein Tag. Von solch einem Tag wollen wir reden.

      Der Himmel, wenn es ihn gab, verbarg sich hinter tief fliegenden Wolken, Regenwolken mit ihrer schweren Fracht. Kein blauer Fleck vermochte dieses dahinjagende Grau zu durchbrechen. Ein Tag, an dem niemand vor die Tür trat, wenn es denn nicht sein musste. Und doch war da ... Ja was war da?

      Eine Tür öffnete sich an diesem Tag und ein Kind trat heraus. Nichts Besonderes wirst du sagen, Kinder treten vor die Tür. Und doch war dieser Tag anders.

      Das Kind hatte eine dünne Jacke an, ein Paar Halbschuhe, und eine Mütze auf. In der Hand hielt es einen Beutel. „Wo willst du hin?“ schallte es noch durch den letzten Spalt der Tür. Dann war sie zu ... keine Antwort. Ja, wo wollte es hin? In den Wald, weg von diesen Erwachsenen, die sich immer stritten, die nie Zeit hatten, die nie ... nur weg.

      Vielleicht zu den Tieren im Wald, vielleicht hatten sie ja Zeit; Zeit vielleicht, einem kleinen traurigen Mädchen zuzuhören. Das Mädchen blickte noch einmal zum Himmel und sah die tief dahinfliegenden Wolken. Doch was oder wer sollte sie aufhalten? Noch einmal zog sie die dünne Jacke fest um ihre Schultern. Dann machte sie sich auf den Weg. Erst waren ihre Schritte zaghaft, doch dann wurden sie immer fester. Forsch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie hatte sich entschlossen, in den Wald zu gehen. Sollten die Erwachsenen sie doch vermissen, die hatten ja doch nie Zeit. So ging sie den Weg in Richtung Wald, den Kopf leicht erhoben, fast trotzig dem Sturmwind entgegengestreckt.

      Viele Schritte war sie gegangen. Niemand aus dem Haus war ihr gefolgt. Den Rand des Waldes hatte sie schon vor einer geraumen Weile erreicht. Sie hatte sich nur einmal kurz umgedreht, so, als wollte sie auch ganz sicher sein. Dann hatte sie den Pfad in Richtung Schonung eingeschlagen. Dort hatte sie oft im Sommer gesessen und den Vögeln des Waldes gelauscht, wenn diese durch die Zweige zwitscherten.

      Heute war es still, der Sturm hatte nachgelassen, nur ein leichter Wind bewegte die Zweige. Kein Licht durchbrach das letzte Grau des Tages, erhellte die Dunkelheit, die sich ganz langsam, fast schon zärtlich, über den Wald, die Bäume und Sträucher senkte.

      Einen Fuß vor den anderen setzend ging das Mädchen immer weiter. Müdigkeit - erst leicht, müde Augen und dann, immer stärker, müde Beine ließen das Mädchen langsamer gehen. Kälte kam hoch, drang durch die dünne Jacke, kroch an den Ärmeln herein, an der Knopfleiste. Nein. Nach Hause würde sie nicht gehen. Und mit jedem Schritt, den sie ging, kroch noch etwas anderes in ihr hoch, ließ sie zusätzlich frieren. Doch zurück wollte sie nicht gehen, nicht in diese kalte Welt der Eltern.

      Ein Weihnachtsmärchen - Teil 2

      Viele, sehr viele Schritte war sie gegangen. Und müde war sie geworden, sehr müde. „Ein bisschen ausruhen kann ja nicht schaden“, dachte sie, „ich setze mich einfach ein bisschen hier hin. Und wenn ich dann etwas ausgeruht bin, gehe ich weiter. Dann find ich sicher auch wieder den Weg.“

      So stand das Mädchen neben einem kleinen Baum. Da war eine Mulde im Gras, neben dem Baum, wie zum Ausruhen gemacht. Dort wollte sie sich etwas hinsetzen. Sie nahm ihren Beutel, legte ihn neben sich, setzte sich und lehnte sich dabei leicht gegen den Baum. Ihre Augen waren schwer geworden,

      Müdigkeit und Traurigkeit ließen die Augenlider zufallen. Morgen, bei Tagesanbruch, würde sie ganz bestimmt den Weg wiederfinden. Langsam sank ihr
      Körper neben dem Baum in Gras, sie schlief ein.

      Doch was war das? Wie auf ein unsichtbares Zeichen hatte sich der Himmel aufgehellt, Kälte deckte überall das Land. Eine Schneeflocke wirbelte in zaghaftem Flug durch die Luft und ließ sich auf das schlafende Mädchen nieder. Da, eine zweite Flocke, eine dritte. Immer mehr Flocken fielen vom Himmel. Und welch eine Merkwürdigkeit. Sie fielen vom Himmel und ... deckten das Mädchen zu, wie mit einer feinen Decke aus silbrig glänzenden Sternen. Deckten die Bäume zu ... erst die Spitzen der Zweige, dann immer mehr. Der ganze Wald hüllte sich in eine weiße Decke aus Schnee, so, als wollte er etwas verbergen.

      „Es hat angefangen zu schneien,“ tönte ein kräftige Männerstimme durch den Flur des Hauses. „Wo ist eigentlich Katrin? Sie soll endlich zum Abendbrot kommen.“ „Ist sie denn nicht bei dir,“ kam die weibliche Gegenfrage. „Nein.“

      „Katrin,“ schallte der Ruf durchs Haus, „Katrin, wo steckst du?“ Keine Antwort. „Ihre Jacke ist weg und die Halbschuhe.“ Mit erschrockener Stimme ausgesprochen hingen diese Worte schwer im Raum. „Es war nicht gut, dass wir uns mal wieder vor ihr gestritten haben. Katrin, wo bist du?“ Still. „Du musst was unternehmen, musst sie suchen. Sie kann doch nicht so einfach weg sein.“ Die harten Worte des Streites vor einer Stunde machten einer großen
      Angst und Sorge Platz. „Ich werde gehen und sie suchen. Doch wo?“ „In letzter Zeit hat sie ab und zu mal was vom Wald erzählt und von den Tieren des Waldes.“

      „Was, in den Wald...?“ „ Ich muss die Nachbarn fragen. Allein kann ich nichts erreichen.“ Heftige Schritte, lautes Türenschlagen, dann waren nur noch die
      schweren Schritte im Schnee zu hören. „Verdammt es hat geschneit,“ brummte die Männerstimme, „so ein Mist.“ Dann war kräftiges Klopfen und Klingeln an einigen Türen nebenan zu hören. „Guten Abend. Ist Katrin bei Euch? Nein?“ Es klang wie ein Aufschrei. „Dann ist sie weg. Ich muss sie suchen. Ich brauch’ eure Hilfe.“

      Türenklappen war zu hören, aufgeregte Stimmen, dann folgten hastig gegangene schwere Schritte. „ In den Wald kann sie gegangen sein. Wir müssen sie dort suchen.“ „Bist du verrückt, in den Wald.“ „Ja, ich weiß nichts anderes.“ „Dann los, wir müssen uns beeilen. Sie hat nur eine dünne Jacke und Halbschuhe an. Es ist sehr kalt geworden.“ Hastig bewegten sich die Männerschritte in Richtung Wald, begleitet von dem Schein von Lampen. Wie Finger versuchten sie das Licht der Dunkelheit zu durchdringen, huschten hin und her, mal einen Baum mal einen Strauch oder Erdhügel beleuchtend, nichts. Stimmen riefen durch die Nacht ... und verhallten ohne Antwort: „Katrin?“

      „Wir werden sie nicht finden. Hier sind keine Spuren zu sehen. Der Schnee deckt alles zu.“ Hastig bewegten sich die Schritte weiter, knackte da ein Zweig, knirschte dort der Schnee unter schweren Schuhsohlen. Nichts. Es schneite unaufhörlich. Fast konnte man die Dicke des Schnees wachsen hören, Zentimeter um Zentimeter.

      Ein Weihnachtsmärchen - Teil 3

      Seit die Männer die Häuser verlassen hatten, waren Stunden vergangen. „Wir werden sie nicht finden.“ „Lasst uns weitersuchen. Irgendwo muss sie doch sein. Katrin?!“ „Warum ist sie eigentlich weggelaufen?“ „Wir haben uns mal wieder gestritten und das hat sie wahrschein­lich gehört. Jedenfalls ist sie jetzt nicht mehr da. Und das zwei Tage vor Heiligabend.“ „Lasst uns weitersuchen. Wir müssen sie finden. Sie erfriert bei der Kälte.“

      „Katrin?!“ wieder schallte der Ruf ... Die Flocken fielen unaufhörlich. Die Lichtfinger der Lampen versuchten mühselig diese weiße Wand zu durchdringen. „Katrin?!“

      Müde und zerschlagen standen sie da im Schnee, die Männer. Die ganze Nacht hatten sie fieberhaft gesucht und gerufen, aber sie hatten sie nicht gefunden. Keiner wagte das auszusprechen, was sie dachten: ob sie wohl noch lebte?

      Ganz in der Nähe stand ein kleiner Baum, etwas krumm und schief, nichts Besonderes. Und doch, irgendetwas schien von diesem Baum auszugehen. Einer der Männer ging hin. „Kommt schnell her.“

      Der Mann hatte sich neben dem Baum hingekniet, bei einer kleinen Mulde, und begann vorsichtig mit den Händen den Schnee beiseite zu schieben. „Schnell eine Decke,“ flüsterte er. Kein anderes Wort war zu hören, eine merkwürdige Stille erfasste sie alle, die sie da standen, die sie die ganze Nacht verzweifelt gesucht hatten. Behutsam hüllten sie das Mädchen in eine Decke. Ein anderer stützte den Vater und sagte: „Komm, wir müssen sie schnell nach Hause bringen. Sie lebt, sie ist nur sehr kühl.“

      Vorsichtig hoben sie das Kind in der Decke auf. Dann gingen sie mit schnellen Schritten den Weg zurück, zurück zu den Häusern. Keiner sagte ein Wort.

      „Wenn es sie nicht gäbe, die Weihnachtsgeschichte,“ brummte einer der Männer, und seine Stimme klang sehr belegt, „dann müsste man sie erfinden.“

      „Ja“ brummte eine andere Stimme zurück.

      Das Lied der Amsel

      Es war ein grauer Regentag. Die Wolken hingen schwer am Himmel, hatten sie doch eine große Last an Regentropfen zu tragen. Unter einem alten Fliederbusch, ganz dicht an den Stamm gekauert, saß eine alte Amsel.

      Wie oft hatte sie doch im Frühling auf einem Ast gesessen und ihr helles Lied in den Himmel gesungen. Jetzt war sie alt und müde. Sie fühlte, daß ganz langsam ihre Kräfte schwanden. Was würde sie nicht alles dafür geben, könnte sie die Zeit noch einmal zurückdrehen. So an den Stamm gekauert merkte sie, wie ganz langsam eine Kälte in ihr hochstieg, eine Kälte, die sie noch nie erfahren hatte. Viele Winter hatte sie erlebt, mit heftigen Stürmen, mit kalten Winden, mit langen Tagen der klirrenden Kälte. Aber dies, was sie jetzt verspürte, war eine andere Kälte. Und wie sie so dahockte, ganz dicht an den Stamm geduckt, wie die schweren Tropfen von den Blättern auf sie hernieder fielen, entrang sich ihr ein leises, fast klagendes Zwitschern, ganz leise.

      "Lieber Gott, lass mich noch einmal die warme Sonne des Sommers spüren, laß mich noch einmal mit all meinen Freunden ein Lied in die Sonne zwitschern. Spanne noch einmal den blauen Himmel des Sommertages über mich."

      Wie eine kleine Flaumfeder im Sommerwind schwang sich dieses leise Zwitschern empor, empor durch die Lüfte, den schweren Wolken entgegen, immer weiter immer weiter empor. Und als ob dort oben einer stand und lauschte und das leise Zwitschern verstand, zeigte sich zwischen allen den schweren Regen tragenden Wolken eine kleine Stelle, eine kleine blaue Stelle ... wie der Eingang zu einer anderen Welt. Und wie auf ein Zeichen bahnte sich ein schmaler Strahl der Sonne durch diese Lücke seinen Weg, seinen Weg durch all diese Tropfen und zeigte mit seinem kleinen hellen Finger genau auf den Fliederbusch unter dem die Amsel saß.

      Und als ob sich alle Vögel dieser Welt zu einem Konzert verabredet hätten erhob sich das herrlichste Gezwitscher und Tirilieren, dass je ein kleines Amselherz gehört hatte. Ganz warm wurde der kleinen Amsel um ihr Amselherz. Und sie spürte wie all die Schwere des Lebens von ihr abfiel. Ja es war fast so, als würde sie von dem kleinen Strahl der Sonne empor getragen, empor getragen in das Licht.

      Und sie nahm noch einmal mit ihrer letzten Kraft ihre kleine Stimme zusammen und fing an zu zwitschern und zu trillern und stimmte ein in den großen Chor der Chöre. Sie sah sich emporschwingen in den lauen Sommerwind, getragen vom lauen Strahl der Sonne. Und ihr Gesang klang noch einmal durch die Luft. Er erfüllte den Himmel und schwang sich wie eine Treppe der Töne hindurch durch die Wolken in das dahinterliegende ewige Blau.

      Das kleine Lied der Amsel war verklungen. Ihr samtig schwarzes Federnkleid, berührt mit den Regentropfen, glitzerte wie ein Brautkleid im Strahl der Regensonne. So lag sie da, klein und friedlich, zum letzten Fest der Feste geschmückt.

      Ich habe die kleine Amsel begraben, habe sie unter ihrem Fliederbusch begraben. Und wenn schwer die Wolken am Himmel hängen, und wenn sich ein kleiner Strahl der Sonne seinen Weg bahnt durch den Regen, dann höre ich manchmal noch dieses leise ganz zarte Zwitschern. Und ich spüre noch einmal ein kleines Amselherz sich erheben, erheben in die Lüfte und singen, singen ...
      Grau liegt es vor dir - hinter dir – unter dir und über dir,
      das Meer – mit allem, was da war und was da ist.
      Du bist gefangen, gefangen im Strudel der Zeit.
      Das Meer hält dich fest, fest mit seinen kalten Armen,
      dich zu verschlingen, wenn deine Kraft dich verlässt.

      Und du spürst, wie eine Welle nach der anderen dich umspült.
      Es fühlt sich an wie die Arme einer Liebenden.
      Wenn sie doch nur nicht so kalt wären. Und diese Kälte
      greift nach dir und deinem Herz, manchmal weich und zärtlich,
      glucksend und schmeichelnd.

      Dann wieder hart und alles fordernd, br*cht sie über dir zusammen.
      Begräbt unter sich, was nicht mit aller Kraft nach oben strebt.
      Du treibst dahin – kalt und durchnässt vom schm*rz der Zeit.
      Spürst du keine Wärme mehr in dir. Alles aufgezehrt.

      Wie einen Haufen Müll werfen dich die Wellen hin und her.
      Deine Arme sind lahm, sich dagegen zu wehren.
      Viel zu lang hat der Kampf dagegen schon gedauert
      und all deine Kraft aufgefressen. Ganz langsam ist sie entschW*nd*n -
      deine Kraft. Und jetzt?

      Jetzt treibst du dahin, Abfall des Lebens und der Zeit.

      So wie das Meer kommt und geht, geht sie dahin die Traurigkeit.
      Jeden Morgen begrüßt sie dich wie einen alten Freund,
      umschlingt dich mit ihren weichen schmeichelnden Armen
      nimmt dich ganz in sich auf und – frisst dich auf.

      Wie die Kälte steigt sie in dir auf, klammert sich um dein Herz.
      Erst fühlt es sich an wie eine sanfte Umarmung, doch aus dieser
      Sanftheit wird ein immer stärker werdender Druck, eine Last,
      die langsam anfängt, deine Seele zu erdrücken.
      Und du spürst, der Druck ist noch nicht genug,
      er wird noch immer größer. Du hast das Gefühl,
      dass du darunter zusammenbrechen musst, zerbersten.

      Wie lange noch kannst du diesen Druck aushalten?

      Der Berg – ein Märchen nicht nur für Kinder - Teil 1

      Es war einmal ein kleiner Junge, blond, blauäugig, mit einer Stupsnase. So ein richtiger Lausejunge, wie du ihn dir vielleicht vorstellen kannst: mit öfters mal zerrissener Hose und ab und zu mit einem sehr trotzigen Blick in seinen Augen. Er war der ganze Stolz seiner Eltern, besonders der von Papa. Der kleine Junge liebte seinen Papa heiß und innig. Papa machte immer so tolle Sachen mit ihm, wie schwimmen und Fußball spielen und klettern. Und seine Mama, die konnte immer so leckere Kuchen backen. Er hatte auch eine größere Schwester, so eine Schwester, mit der man sich immer streiten mußte. So eben, wie man sich immer mit einer großen Schwester streitet. Und er hatte einen Hund.

      Eine ganz normale Familie. So eine Familie, wie du vielleicht eine kennst ..., so eine Familie, wie sie vielleicht gerade neben dir wohnt.

      Wie soll der Junge heißen, Klaus oder Dieter oder Fritz. Nein. Ich glaube, keiner dieser Namen paßt zu ihm. Nennen wir ihn doch einfach Oliver. Und weil das doch ein sehr langer Name ist, nennen wir ihn doch einfach Olli.

      Diese Geschichte handelt von Olli. Von Olli und seiner Schwester, von seinem Papa und von seiner Mama, und von seinem Hund.

      Eines Tages, mitten im August, der Sommer war heiß und die Luft flirrte in der heißen Sonne, da sagte der Papa: “kommt, wir gehen schwimmen.“ „Hurra“, rief die Schwester, und rannte los, ihre Sachen zu packen. Sie ging immer gern schwimmen. „Ich hab keine Lust“ sagte der Junge, „ich bin so müde.“ „Müde?“ der Papa sah seinen Liebling erstaunt an, und er sah in ein paar müde Kinderaugen und er erschrak. Wo war der Glanz dieser Augen, die ihn immer so angestrahlt hatten, wenn sie etwas gemeinsam unternahmen? „ Na gut, dann gehen wir heute eben mal nicht. Vielleicht gibt es ja bald auch Regen!“ „Ich glaube auch,“ sagte der Junge, und „ich leg‘ mich einen Augenblick hin.“

      Wenige Tage später, diesmal wollte der Papa mit seinem Sohn, auf den er ganz stolz war, in die Berge fahren; in die Berge, wo sie immer so viel gemeinsam geklettert waren und so viele Sachen entdeckt und so viele Abenteuer bestanden hatten. Wieder antwortete der Junge: „Papa, ich bin müde. Ich möchte mich lieber ein bißchen ausruhen.“

      Spät am Abend, als die Kinder schon lang im Bett waren, die Eltern noch gemeinsam im Wohnzimmer saßen, sagte der Mann zu seiner Frau: „Du, ich mach mir Sorgen. Olli ist seit letzter Zeit immer so müde. Und wenn ich es mir so richtig überlege, hab‘ ich den Eindruck, daß er auch die letzte Zeit ein bißchen blaß aussieht. Geh‘ doch mal mit ihm zum Arzt.“

      Olli schlief diese Nacht sehr unruhig. Er schlief schon die letzten Wochen und Monate immer sehr unruhig. Und er war morgens, wenn er aufwachte, immer so müde. Er hatte keine Lust zum spielen. Und überhaupt ...

      Diese Nacht lag Olli schon eine ganze Zeit lang wach. Er lag schon die letzten Wochen oft wach. Und immer, wenn er wach lag, gingen ihm so viele Gedanken durch den Kopf. Und auch dieses Mal gingen ihm wieder Gedanken durch den Kopf. Und da war eine Frage; eine Frage, die – je länger er darüber nachdachte - ihn immer unruhiger und trauriger machte: war sein Papa traurig oder sogar ein bißchen böse, daß er im Moment nicht so spielen und toben wollte, nicht mehr so Lust und auch nicht mehr so Kraft hatte zu klettern, so, wie er und sein Papa es sonst immer so gern gemacht hatten? Er wollte doch wieder so gern klettern, aber er fühlte sich die letzte Zeit so müde und so matt. Am liebsten würde er nur gern ein bißchen schlafen, nur so ein kleines bißchen. Und danach würde er dann wieder ganz munter sein. Ob er das seinem Papa mal sagen sollte? Und ob sein Papa ihn dann verstünde?

      Über dieser Frage war er langsam müde geworden, müde, weil er schon so oft in letzter Zeit so viel denken mußte, immer in der Nacht, wenn er wach lag. Warum war er in letzter Zeit immer so müde, und warum verließen ihn immer so schnell seine Kräfte? Und auch hier die Frage: ob sein Papa darüber böse oder traurig war?

      Und seine Augen wurden immer müder und fingen an, langsam zuzufallen. Und da war ein Gefühl, du weißt schon, so ein Gefühl, das man hat, daß man schon schläft und daß man doch noch ganz wach ist. Ein komisches Gefühl.

      Und ihm fielen die ganzen Ärzte ein, zu denen sie die letzte Zeit so oft gegangen waren. Und die immer so komisch geguckt hatten, wenn sie ihn untersucht hatten. Und daß dann immer Mama und Papa so traurig geschaut hatten. Manchmal hatte er das Gefühl gehabt, daß sie Tränen in den Augen hatten. Und wenn er sie danach fragte, hatten sie es immer abgestritten. Dabei hatte er es ganz genau gesehen. Zuerst war auch nur die Mama mit zu den Ärzten gegangen. Dann, eines Tages, auch der Papa. Schon komisch. Und dann hatten sie ihn so lange angeschaut. Und dann hatten sie ihn so fest gedrückt, daß es ihm schon leicht weh tat. Komisch. Und sie haben immer gesagt, daß sie ihn sehr lieb hätten.

      Dann – eines Tages - mußte er ins Krankenhaus. Dort mußte er dann bleiben. Gott sei Dank blieb seine Mama bei ihm. Warum schliefen sie nicht mehr zu Hause? Ob sie bald wieder nach Hause gingen?

      Und Papa hatte manchmal ganz traurig geschaut und er hatte manchmal Tränen in den Augen. Und dann haben sie ihm immer gesagt, daß er ganz stark sein müßte, und daß sie ihn ganz lieb hätten. Warum sie das nur immer zu ihm sagten?

      Langsam fielen seine Augen zu, wie zu einem großen Schlaf. Ja, schlafen wollte er, nur schlafen. Er war ja so müde.

      Und da waren die ganzen Ärzte und Schwestern. Die guckten auch manchmal so ernst. Immer wenn er sie dann fragte, warum, da hatte er das Gefühl, daß sie versuchten, ihn besonders freundlich anzuschauen. Und daß er sehr krank wäre, haben sie gesagt. Aber daß sie alles versuchen würden, damit er bald wieder gesund würde. Aber, daß es ein Weilchen dauern könnte. Und - das hatte er nicht verstanden - daß sie es hofften. Was hofften sie? Aber dabei hatten sie immer so komisch geschaut.

      Plötzlich ... Es war, als ob eine kleine Brise durch das Zimmer wehte; es war, als ob jemand durch das Zimmer ginge.

      Und Olli spürte, da setzte sich jemand auf sein Bett. Am Fußrand saß er, das spürte Olli ganz genau. Olli traute sich gar nicht zu atmen denn seine Augen aufzumachen. Was, wenn dieser Jemand etwas von ihm wollte? Olli atmete heftig, es fiel ihm sehr schwer.

      „Hallo Olli,“ sprach da plötzlich eine Stimme. Träumte er oder war er wach? „Hallo Olli,“ sprach da wieder die Stimme. Olli traute sich nicht die Augen aufzumachen. Mit leiser Stimme antwortete er „Hallo“. „Weißt du, wer ich bin?“ fragte die Stimme. Olli schüttelte den Kopf. Im Dämmerlicht des Zimmers war ein Mann zu sehen. So viel konnte er beim Blinzeln durch seine Augen erkennen. Und dieser Mann saß an seinem Bett, genauer - er saß auf dem Fußende seines Bettes. Schnell wieder die Augen zumachen dachte Olli. „Du kannst deine Augen ruhig zumachen“, sagt die Stimme, „du kannst sie aber auch aufmachen. Wie du es möchtest.“ Olli beschloß lieber die Augen zuzuhalten. Vielleicht würde der Mann ja wieder gehen, wenn er die Augen geschlossen hielte. Vielleicht könnte ihn der Mann ja gar nicht sehen, er sah ja auch nichts mit geschlossenen Augen.

      „Wollen wir auf eine Reise gehen?“ fragte der Mann, „wollen wir auf einen Berg steigen, einen großen Berg?“ Ob der Mann Bergsteiger war, dachte Olli, so ein Bergsteiger wie sein Papa? Langsam wurde Olli ruhiger. Immer noch war da ein komisches Gefühl. Und: was wollte der Mann? Wer war der Mann? Olli blinzelte durch seine Augenlider.

      Der Berg - Teil 2

      Ja so konnte er es machen. So konnte er wenigstens sehen, was oder wer da war. Und wenn es zu gruselig würde, dann konnte er ja ganz schnell seine Augen wieder schließen oder er konnte schreien. Dann würden sie sicher alle gleich gerannt kommen, die Schwestern und die Ärzte.

      Aber er wollte erst mal nicht. Papa hatte immer gesagt, daß er mutig sei. Er wollte jetzt auch mutig sein. Ehrlich gesagt, fiel es ihm ein bißchen schwer, aber er wollte es versuchen.

      „Mach es so, wie du es möchtest,“ sagte die Stimme, „ und wenn du dich unsicher fühlst, dann blinzele einfach weiter durch deine Augen. Das ist in Ordnung so.“ Ob der Mann ein Hellseher war. Wie konnte er es nur wissen. Weiße Haare hatte der Mann, so viel konnte Olli trotz des dunklen Zimmers erkennen, und ein freundliches Gesicht. Obwohl er nicht viel vom Gesicht sehen konnte. Aber irgendwie wirkte es freundlich. Und die Stimme klang ruhig, irgendwie ruhig. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß er keine Angst haben müßte, keine Angst.

      „Hab keine Angst,“ sagte der Mann, und ... „willst du mit mir auf eine Reise gehen, auf eine Reise zu einem Berg, einem großen Berg, einem heiligen Berg?“

      „Hör mir einfach ein bißchen zu“ sagte der Mann, „ich werde dir eine Geschichte erzählen, und in der Geschichte werden wir beide auf diesen großen heiligen Berg steigen. Vertraust du mir?“

      „Wird diese Reise lange dauern? Ist der Berg hoch?“ fragte Olli ganz leise. Er war ja vielleicht gut, leise zu sprechen dachte Olli. Dann würde seine Mutter nicht wach werden. Seine Mutter schlief die letzten Wochen immer bei ihm im Zimmer, seit sie im Krankenhaus waren. Und sie sah immer so müde aus. Obwohl sie ja immer versuchte zu lachen. Aber irgendwie ja sie müde aus. Olli wollte sie jetzt auf keinen Fall wecken. Und was würde dann der Mann machen, wenn seine Mutter wach würde. Olli dachte im stillen: ich hab euch alle sehr lieb, sein Mama, seinen Papa, seine Schwester und seinen Hund. Und vielleicht würde er ja bald wieder zurück sein von dieser Reise. Aber es war doch nur eine Geschichte. Aber die Geschichte wollte er hören. Vielleicht war sie ja spannend, so spannend wie manchmal die von seinem Papa, wenn der erzählte, vielleicht.

      „Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, ein Märchen, weil ich deine Gedanken kenne.“ Sagte der Mann, „Ich nenne das Märchen: der Berg. Ich werde jetzt eine Zeitlang zu dir kommen, jeden Abend, um dir das Märchen zu erzählen. Und vielleicht komme ich auch zwischendurch, tagsüber. Dann siehst du mich nicht. Aber ich werde bei dir sein. Ich werde dir das Märchen erzählen. Und du wirst hören - und verstehen. Dein Herz wird verstehen. Darum höre gut zu.“

      Es war einmal ein kleiner Junge, der war sehr krank geworden, so krank geworden, daß er ins Krankenhaus mußte und dort wohnen. Viele Leute – Ärzte, Schwestern und andere kümmerten sich jeden Tag um ihn. Und auch seine Eltern waren jeden Tag bei ihm und schliefen sogar bei ihm. Und immer, wenn der Junge ein Gespräch der Erwachsenen hörte, hörte er den Satz: ... sehr stark sein, denn er hat einen großen Berg vor sich; oder ... er ist noch nicht überm Berg. Und der Junge fragte: „was meint ihr mit diesem Berg? Was ist das für ein Berg?“ Und Mama und Papa schauten dann immer so komisch und versuchten zu lachen und sagten: „na so ein Berg auf den man halt rauf klettern kann.“

      So ein Berg auf den man so rauf klettern kann, was für ein Quatsch. Deshalb gucken die doch nicht so komisch und tuscheln so leise miteinander. Und immer, wenn ich in der Nähe bin, dann wechseln sie plötzlich das Thema und tun so harmlos.

      Aber der Junge war neugierig geworden. Er wollte diesen komischen Berg, von dem die Erwachsenen immer sprachen, finden und - wenn er es schaffte
      – rauf klettern. Er kletterte für sein Leben gern. Und Papa hatte ihn auch immer zum Klettern mit in die Berge genommen. Eines Abends zog sich der Junge heimlich seine Unterwäsche und seine Socken an, sein T-Shirt, seine Jeans und seine Schuhe und machte sich auf den Weg. Er schlich sich heimlich raus, raus aus dem Krankenhaus, vorbei an den vielen, vielen Zimmern und Fluren, vorbei auch an den vielen, vielen Treppen und Fahrstühlen, bis er endlich draußen war ...

      Er wollte seine Antwort schon suchen und diesen Berg finden. Und wenn er dafür bis ans Ende der Welt gehen müßte. So ging er, in die Nacht hinein, einen Fuß vor den anderen setzend, die Straße entlang, über die Brücke, am Fluß entlang, immer weiter, weiter voran. So war der Junge schon viele Schritte gegangen, viele Schritte und viele Stunden. Müde war er geworden und müde waren auch seine Füße. Er beschloß sich hinzusetzen und sich auszuruhen. Morgen ist auch noch ein Tag.

      Morgen würde er weitergehen und morgen würde er den Berg finden. Langsam und von Müdigkeit ganz schwer fielen ihm die Augen zu. An den Stamm eines Baumes gelehnt schlief er ein und träumte, träumte von einem Land mit weiten Ebenen, großen Wäldern, klaren Bächen und hohen Bergen, Bergen so hoch,
      daß es schien, als ob sie in der Unendlichkeit des Himmels verschwänden. Hier mußte sein Berg sein, der große Berg, von dem die Erwachsenen immer so
      sprachen.

      Und er sah ihn ..., plötzlich sah er ihn ..., den Berg ..., und er wußte, das war der Berg. Diesen Berg mußte er erklimmen. Und da bemerkte er, daß er nur sein T-Shirt, seine Jeans und seine Rödelschuhe anhatte.

      „Meinst du, daß der Junge auf diesen Berg steigen kann?“ fragte der Mann. Olli nickte ganz leicht mit dem Kopf. Er würde auf diesen Berg steigen. „Meinst du, daß dieser Junge Hilfe braucht?“ fragte der Mann weiter. Olli überlegte: Hilfe wäre nicht schlecht, nicht daß er z.B. nicht mutig wäre und da rauf klettern würde, aber Hilfe wäre sicher nicht schlecht, nur so. „Ich werde dem Jungen helfen“ sagte der Mann, „aber klettern muß er allein. Ich werde immer bei ihm sein. Er muß sich anstrengen und er wird viel Karft brauchen, auf diesen Berg zu klettern. Aber er kann es schaffen. Und wenn er es schafft, dann ... Laß uns zu der Geschichte zurückkehren,“ sagte der Mann zu Olli.

      Auf diesen Berg klettern mußte der Junge. Und der Junge nahm all seine Kraft und seinen Mut zusammen und fing an, den Berg zu ersteigen.

      Die ersten Schritte waren leicht, teils ging es über kleine Bäche, teils mußte er zwischen Felsbrocken hindurch steigen. Es ging pippileicht. Mit seinem Vater war der Junge schon solche Wege gegangen. Doch dieser Weg war ein anderer.

      Der Weg wurde schwerer, nicht sofort und nicht schlagartig. Er wurde schwerer Schritt für Schritt. Der Junge merkte es plötzlich und dachte bei sich, ich hab keine Lust mehr, ich hör auf und bleib einfach hier. Hier ist es auch schön. Warum soll ich weiter steigen? Aber da war etwas, wie eine Stimme, wie die Stimme die sagte: du mußt. Du mußt weiter steigen, wenn du oben sein willst.

      Und der Junge stieg weiter.

      Wieder war er an einer Stelle angekommen, die toll aussah. Von hier aus hatte man einen Wahnsinnsüberblick. Hier könnte man doch einfach bleiben, sich hinsetzen und bleiben. Aber da war der Wind. Wie eine Stimme klang er, wie er so blies, leise aber bestimmt: du mußt weiter steigen. Nur was essen wollte der Junge, sich ein bißchen ausruhen, den blauen Himmel und die tolle Sonne genießen. Nein – säuselte der Wind, du mußt weiter steigen.

      Und der Junge stieg weiter.

      Olli war ganz gespannt, was der Junge in der Geschichte noch alles erleben würde. „Erzähl weiter“ forderte er den Mann an seinem Fußende auf. „Ja, ja, es geht gleich weiter“.

      Der Junge kam an eine schwierige Stelle, eine Stelle, an der es an einer Seite steil bergab ging und die andere Seite – steil bergauf. Der Weg war schmal und da war nichts, an dem er sich festhalten konnte. War hier der Weg zu Ende? Er holte tief Luft. War da nicht immer sein Papa gewesen, und hatte der nicht immer gesagt, du schaffst es. Der Junge sah die Worte richtig vor seinen Augen. Er hörte irgendwie die Stimme von seinem Papa. Und er glaubte daran. Er faßte all seinen Mut zusammen und ging – Schritt für Schritt weiter – eine Fuß vor den anderen setzend – bis er es geschafft hatte. Die schwierige Stelle ... er hatte sie überwunden. Bergsteigen ist doch nicht ganz so einfach, dachte der Junge.

      Der Berg - Teil 3

      „Wie geht’s weiter“ fragte Olli den Mann. „Nun warte, nicht so ungeduldig.“

      Der Junge ruhte sich einen Augenblick aus. Danach stand er wieder auf und ging den schmalen Weg weiter. Wie er um eine Felsecke bog, da sah er es. Es wurde noch schwieriger: ein Wildbach rauschte über die Felsen. Das Wasser stürzte mit brausendem Getöse zu Tal. Hier sollte er vorbei. Unmöglich dachte der Junge – unmöglich. Und plötzlich fiel dem Jungen die eine Wanderung ein, wie er mit seinem Vater an einen Wasserfall kam, an dem sie vorbei mußten. Sein Vater hatte ihm ein Seil gegeben und hatte gesagt: ich halte dich fest, du kannst gehen. Er hatte auf seinen Vater vertraut, und er war gegangen, und sein Vater hatte ihn gehalten. Der Junge dachte an diese Tour und er dachte bei sich: ich stelle mir einfach vor, daß da ein Seil ist ... und mein Papa, der hält mich, damit kann ich gehen. Und er dachte daran und er ging. Er hatte den Wildbach überwunden.

      „Deine Geschichte ist spannend“ sagte Olli.

      Langsam fand er Gefallen daran. Der Junge in der Geschichte war gut. Der war so ein richtiger Bergsteiger wie er einer sein wollte. „Erzähl weiter“ sagte er zu dem Mann. „Ja gleich.“

      Wieder machte der Junge eine Pause. Die Tour war ganz schön anstrengend. Er hatte es sich viel leichter vorgestellt, das mit dem Berg und da rauf klettern. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, er mußte da rauf klettern ... ganz rauf ... bis ganz oben hin.

      Komisch, dachte der Junge, er war ja ganz allein. Ganz allein mußte er auf den Berg klettern? Das muß ich schaffen, dachte der Junge, und ... ich schaffe es.

      Nach einer kleinen Pause ging der Junge weiter.

      Der Weg war schmaler geworden ... und die Luft kälter. Kälter? Es würde doch nicht etwa Eis und Schnee geben? Er hatte doch nur ein T-Shirt und seine Jeans an, dachte der Junge. Er blickte nach oben. Dort hinauf wollte er. Da sah er es: Eis und Schnee, wie Diamant glitzerte es, kalt und gefährlich, das Eis, glitzerte der Schnee, in der Sonne, umgeben von blauer, glasklarer Luft. Da hinauf sollte er?

      „Der Junge wird es nicht schaffen“, sagte Olli, „er wird erfrieren.“ „Ich weiß nicht,“ sagte der Mann, „warte es ab.“

      Der Junge dachte, Eis und Schnee und ich ... habe keine Jacke. Ich werde erfrieren. Nach einer Weile spürte der Junge, daß es gar nicht so kalt war. Die Sonne. Wie ein Feuer schienen ihre Strahlen; wie ein Feuer, das alles Kalte und Gefährliche schmelzen läßt, so fühlten sich ihre Strahlen an. Sie würden ihm helfen, dachte der Junge. Ich muß mir nur vorstellen, daß die Sonnenstrahlen in mir gespeichert sind. Dann habe ich Wärme und Energie, das Eis und den Schnee zu überwinden.

      Die Gedanken machten Wärme, Wärme wie damals, als er bei Mama auf dem Schoß saß, als er sich sein Knie aufgeschlagen hatte. Damals hatte seine Mama gepustet und gesagt: schau draußen ist so ein schöner Sommertag, der wird dein Knie heilen lassen. Und meine Liebe zu dir wird wie ein Pflaster sein, das dich beschützt.

      Es hatte geholfen, damals.

      Und der Junge stellte sich die Liebe seiner Mama vor, die Liebe seines Papas, dachte an die Liebe seiner Schwester, manchmal sind ja Mädchen auch ganz in Ordnung.

      Er faßte all seinen Mut zusammen und stieg weiter. Seine Füße wurden kalt, aber es ließ sich aushalten. Komisch, es war sehr kalt, aber es ließ sich aushalten. Die Gedanken an Mama, Papa, die Schwester, und seinen Hund ließen es aushalten.

      Viele Schritte war der Junge schon gestiegen, war auf den Berg gestiegen, den Berg, von dem die Erwachsenen immer redeten. Aber wo war das Ende, wo war der Gipfel?

      „Schafft der Junge es?“ fragte Olli. „Was meinst du,“ fragte der Mann. „Ich weiß nicht, „ sagte Olli. „Du hast recht“, sagte der Mann, „es ist sicher sehr schwierig.“ Und nach einer Weile des Schweigens: „Was meinst du, was der Junge braucht, damit er es schafft?“

      „Der Junge ist Spitze“, sagte Olli, und wenn er von seiner Tour zurückkommt, dann gibt es sicher ein großes Fest.“ „Vielleicht hast du recht“ sagte der Mann, „du, ich glaube, ich muß mich korrigieren.“ „Erzähl‘ weiter“, sagte Olli, „ich will wissen, wie die Geschichte ausgeht.“

      „OK“

      Nachdem der Junge weitergegangen war, der Gedanke an die Sonne und die Liebe seiner Eltern ihn wie eine dicke Daunenjacke gewärmt hatte, stand
      er da, da auf dem letzten Absatz. Dieser Absatz trennte ihn, trennte ihn von seinem bisherigen Aufstieg und vom Gipfel des Berges, seinem Gipfel. Nie zuvor war er solch einen Weg gegangen, nie zuvor hatte ein Weg so viel von ihm abverlangt.

      Eigentlich reicht es jetzt, dachte der Junge. Warum soll ich noch bis zum Gipfel gehen?

      „Es ist ein schwerer Weg,“ sagte der Mann, „was meinst du, schafft der Junge es?“ „Ich weiß nicht ... aber, wenn ich es mir so recht überlege, ich glaube schon“, sagte Olli. „OK, schauen wir mal weiter. Und wenn du willst, dann kannst du dem Jungen ja helfen. Wie? Du hast sicher eine Idee, ganz sicher, ich spüre es.“ „OK“ sagte Olli, „ wir werden es sehen.“ „OK“, sagte der Mann, „aber du erscheinst mir schon sehr müde.“ „Nein“, sagte Olli, „ich halte durch. Ich will wissen, wie es zu Ende geht.“

      Der Junge stand auf dem letzten Absatz. Er wußte, nur wenn er es schaffte, da hoch zu kommen, dann würde er oben sein. Angst beschlich sein Herz. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er die Angst. Wo waren Papa und Mama? Wo war seine Schwester? Mit der hatte er immer so gestritten. Aber wo war sie? Wo war der Hund, mit dem er immer so gern spielte, der ihn immer so freudig begrüßte, wenn er aus dem Kindergarten kam? Angst schlich sich in sein Herz, Angst.

      „Meinst du, daß der Junge Hilfe braucht“, fragte der Mann. „Ich weiß nicht,“ sagte Olli, „ich habe das Gefühl, der Junge hat Angst.“ „Weißt du,“ sagte der Mann, „ bei solch einer Tour, da ist es doch normal, daß man Angst hat. Auch Erwachsene haben Angst. Mama und Papa haben Angst. Wichtig ist, daß jeder weiß, daß da einer ist, der einen lieb hat. Weißt du, ich meine, so richtig lieb hat. Was meinst du? Glaubst du, daß deine Mama und dein Papa dich so richtig lieb haben?“

      „Ich glaube schon ... nein ... ja.“
      „Was denn?“
      „Ja, ich jedenfalls habe meine Mama und meinen Papa ganz toll lieb.“
      „Und?“
      „Ich glaube sie haben mich auch ganz toll lieb.“
      „Du hast recht“ sagte der Mann.

      „Meinst du, daß der Junge Hilfe braucht?“ fragte der Mann noch einmal. „Ich weiß nicht ... Weißt du, ich habe auch Angst, ... du weißt schon, wegen meiner Krankheit.“

      Der Berg - Teil 4

      „Ja ich weiß“ sagte der Mann, „aber laß uns schauen, was der Junge macht. Interessiert es dich?“

      „Ja“

      Der Junge stand auf dem letzten Absatz. Nie zuvor in seinem Leben hatte er so eine Tour gemacht. Selbst mit seinem Papa war er nie zuvor solch eine Tour gegangen. Der Berg ... er war toll, doch auch saugefährlich.

      Ob er es schaffte?

      Sein Papa hatte immer gesagt: du schaffst es, du mußt nur an dich glauben, wir sind immer bei dir.

      Olli war müde geworden. Müde lag er in seinem Bett, im Krankenhaus, müde, denn die letzten Wochen waren sehr anstrengend gewesen. Immer wieder hatte er Untersuchungen und Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen. Immer wieder hatte er alle Maßnahmen geduldig auf sich genommen. Er wollte wieder draußen spielen.

      Der Mann saß an seinem Fußende und schaute ihn an.

      „Willst du mit mir gehen?“ „Wohin?“ fragte Olli. „Was meinst du?“ „In den Himmel?! Aber Mama und Papa?“

      „Mama und Papa haben dich immer lieb. Willst du mit mir gehen? Soll ich die Geschichte zu Ende erzählen?“

      „Ich weiß nicht, ich habe Angst.“ „Willst du meine Hand halten?"

      "Weißt du, Olli,“ sagte der Mann, „Mama und Papa haben genauso Angst wie du. Was meinst du?“ „Ja, ich glaube auch.“

      „Weißt du, ich habe den Eindruck, daß du sehr müde bist.“ sagte der Mann.

      „Ich möchte, daß die Geschichte gut ausgeht.“ sagte Olli. „Du hast sehr viel Energie. Vielleicht solltest du jetzt schlafen.“ „Aber wie geht die Geschichte aus?“ fragte Olli ganz schläfrig, „wie geht die Geschichte aus?“ „Schlaf‘ jetzt, „ sagte der Mann, „schlaf jetzt, Olli.“

      Langsam, ganz langsam, unendlich langsam, senkte sich der unendlich wohltuende Schlaf auf Olli.

      Über dem Märchen war Olli eingeschlafen. Entspannt wirkte sein Gesicht, und da war etwas zu sehen, ein leichter Schimmer vielleicht – oder so ein Gesichtsausdruck, vielleicht nennt man das Glück. Vielleicht hatte er den Gipfel seines Berges erreicht. Leise erhob sich der Mann vom Fußende des Bettes, ging an das Kopfende, beugte sich vorsichtig über ihn und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. Liebe war eingekehrt und hatte seine Seele erfüllt.

      Er würde Olli und seine Eltern noch einen Teil ihres Weges begleiten, manchmal unsichtbar und in Gedanken, manchmal so aussehend wie du und ich. Dann würde er Olli sehen, wie er den Berg besteigt, den Grat erklettert, die Felsen umrundet, das tosende Wasser und das glitzernde Eis überwindet. Er hob noch einmal die Hand wie zum Gruß. Dann verschwand er leise und still, wie er gekommen.

      Am anderen Morgen erwachte Olli. Er hatte das sicher alles nur geträumt. Die Morgenluft strich sanft, fast liebevoll über sein Gesicht. Er hatte gut geschlafen. Trotz des Vollmondes hatte er gut geschlafen. Er wollte aufstehen, er fühlte sich ein bißchen stärker, seit vielen Wochen fühlte er sich das erste Mal ein bißchen stärker.

      Fast wäre er darauf getreten. Da lag etwas auf dem Boden, vor seinen Füßen, ein kleines Büchlein. „Mama ... Mama“, sagte er.

      Seine Mama wachte auf. Auch sie hatte die letzten Wochen und Monate und ganz besonders die letzten Nächte im Krankenhaus sehr, sehr schlecht geschlafen. Immer wieder hatte sie von schrecklichen Sachen geträumt, hatte immer wieder einen alten weißhaarigen Mann gesehen, der mit ihrem
      Olli einen Berg, einen unheimlichen Berg bestieg. Aber da war etwas Komisches; etwas, das sie nie verstanden hatte, aber das sie tief in ihrem Herzen wie einen kleinen Bergquell gespürt hatte.

      Sie wollte sich erheben, wollte aufstehen. Fast wäre sie darauf getreten. Da lag es auf dem Boden vor ihren Füßen, ein kleines Büchlein. Sie hob es auf und blätterte darin. Es war ein Büchlein mit einem Märchen, das da lautete – der Berg.

      Ein Blatt am Baum

      Es war einmal ein kleiner Junge, der liebte die Natur sehr. Er liebte die Blumen - er sprach mit ihnen. Er liebte die Gräser - er sprach mit ihnen. Er liebte die
      Bäume - er sprach mit ihnen. Er liebte alle Pflanzen und Tiere, und so oft der Junge Zeit fand, stürmte er hinaus in den Garten, in seinen Garten, machte
      seine Runde und sprach mit ihnen, den Blumen, den Gräsern, den Bäumen und all den anderen Gewächsen und Geschöpfen, die so in einem Garten sind.

      Eines Tages ging er zum Baum. Der stand mitten im Garten. Immer wenn der Junge morgens aufwachte und aus seinem Fenster sah, konnte er den Baum sehen. Er hatte sich vorgenommen: diesen Baum musst Du kennenlernen. So ging er eines Tages zu ihm hin, nicht direkt auf ihn zu sondern mehr so ein bisschen drumrum und schüchtern, ja vielleicht ein bisschen verlegen, so als wenn man jemanden neu kennenlernt.

      Er fasste die Rinde des Baumes an. Sie war rauh und rissig. An einigen Stellen war sie richtig aufgesprungen, so dass man das blanke Holz sehen konnte. Er streichelte über die Rinde und spürte ihre Rissigkeit; aber er spürte auch etwas ganz anderes. Das überraschte ihn. Trotz ihrer Rissigkeit fühlte sich die Rinde ganz warm an. Dieses Gefühl ermutigte ihn.

      Er sah die Wurzeln, wie sie sich seitlich in die Erde schoben, geradeso als ob sie zu der Erde sagten: "Mach Platz, wir wollen hier hinein"; wie Kinderfüße, die im Sommer ein Loch in den Sand graben, um sich darin zu verstecken. Die Erde schien die Wurzeln zu verstehen, denn sie war eins mit den Wurzeln. Die Wurzeln gaben dem Baum einen festen Halt.

      Da war der Stamm, kräftig und knorrig, etwas verdreht und leicht schief nach einer Seite, vielleicht etwas zerzaust von den Jahren, von Wind und Wetter, aber stabil. Der Junge fand, dass der Baum irgendwie trotzig aussah.

      Da war die Rinde, über die er mit seiner Hand strich, die Haut des Baumes. Was die wohl schon alles ausgehalten hatte. Erst letztes Jahr hatte an dem Baum seine Schaukel gehangen. Dort hatten die Seile tiefe Riefen in den Ast gegraben. Doch der Baum stand da, so als könnte ihn nichts auf der Erde erschüttern.

      Da waren die dicken Zweige. Weit ragten sie in die Luft hinein, getragen vom knorrigen Stamm, stützten sie sich mit aller Kraft auf ihm ab. Und da waren die Zweige; manche ganz gerade, nach außen strebend wie die großen zum Licht; andere wieder ganz klein und krumm.

      Der Junge sah dies alles und streichelte die Rinde des Baumes.

      Und da waren die Blätter. Sie bildeten ein Dach, in kräftigem Grün, denn die Kraft steckte in ihnen. Der Baum trug sie wie eine Krone, leicht verwegen ein bisschen zur einen Seite geneigt, aber stolz wie ein König.
      "Ja", sagte der Junge, "Du bist ein König".

      Er betrachtete die Blätter. Wie klein manche doch waren, mit kleinen Zacken am Rand und mit Adern, wie die an seiner Hand. Wie Finger liefen sie zu den
      Blatträndern. Sie versorgten die Blätter mit Saft, das wusste er.

      Und als der Sommerwind ein bisschen durch die Blätter fächelte, da wirbelte ein Blatt an seinem kleinen Stängel, drehte sein Oval wie im Tanz mit dem Wind, zeigte seine grüne Oberseite und auch seine, fast schon silbrig wirkende Unterseite.

      Der Junge strich über das Blatt, spürte den gezackten Rand, spürte die Adern, spürte die glatte, kräftige Oberseite und die samtig wirkende, weiche Unterseite. Er strich über das Blatt, nein er streichelte es. Er sprach mit ihm und es schien, als ob auch das Blatt mit ihm sprach. Es war ein langes Gespräch.

      Dann verabschiedete sich der Junge und ging hinein.

      Das Blatt war ganz fassungslos. Ganz aufgeregt tänzelte es an seinem Stängel hin und her. "Habt ihr gesehen", sprach es zu den anderen Blättern, "er hat mich gestreichelt. Er hat mit mir gesprochen." Und hätte jemand in diesem Moment das Blatt beobachtet, so hätte er geschworen, einen leichten roten Schimmer auf dem Blatt zu sehen, wie Kinderwangen nach einem aufregenden Tag. Doch die anderen Blätter sprachen: "Du bist auch nur so ein Blatt wie wir. Was regst Du Dich so auf? Sei lieber still und genieß' die Abendsonne."

      Das kleine Blatt wurde sehr traurig und still. "Bin ich wirklich nur so ein ganz gewöhnliches kleines Blatt, ein Blatt wie meine anderen Kameraden?" "Aber der Junge, er hat mich doch gestreichelt", versuchte es aufzubegehren. "Ach gib endlich Ruhe und sei still".

      Am Horizont ging langsam die Sonne unter. Sie schickte noch ein letztes Mal ihre Strahlen über das Land, so als wollte sie sich von allen für diesen Tag
      verabschieden.

      Der Junge war müde geworden. Er hatte Abendbrot gegessen. Dann hatte ihn sein Papa geschnappt, ihn in sein Zimmer getragen, ihn ausgezogen und ins Bett gebracht. Er hatte ihm eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen. Beim Hinausgehen fragte der Junge: "Du Papa, können Blätter eigentlich sprechen?" Und der Papa lachte und sagte: "Eigentlich ... nein, aber so ganz genau weiß' das niemand." Dann löschte er das Licht.

      Am anderen Morgen, die Sonne war noch nicht aufgegangen, der Morgentau lag noch nass, in schweren Tropfen auf den Gräsern, Blumen und Blättern, schlich sich der Junge in den Garten. Schnurstracks lief er zum Baum. Da war es, das Blatt das er gestern gestreichelt hatte. Und er streichelte es wieder und sagte "Guten Morgen". Und hätte jemand ihn und das Blatt beobachtet, so hätte er das Gefühl gehabt, dass das Blatt ihm geantwortet habe.

      Wie auf ein heimlich verabredetes Zeichen fingen die Vögel an zu zwitschern, die Sonne schob ihren ersten Strahl über den Horizont und die Morgenluft begann zu strömen. Es roch nach einem frischen Tag im Garten.

      Fröhlich verabschiedete sich der Junge von seinem Blatt. Und hättet ihr sie gesehen, ihr hättet geschworen, dass das Blatt ihm ebenso fröhlich nachgewunken hat, so ein kleines grünes, mit kleinen Zacken am Rand, an der Unterseite samtig weich und silbrig schimmernd.

      See der Traurigkeit

      Still liegst du da, du See der Traurigkeit.
      Lieblich und friedlich sehen deine Wasser aus
      so, als könnten sie nichts v*rl*tz*n.
      Als wollten sie dich umarmen in lieblicher Gier
      dich streicheln mit sanften Wellen.

      Deine Ufer wirken friedlich und still.
      laden ein, sich niederzulassen an kühlen Gestaden
      streicheln wollen sie dich, der Wellen sanfte Gewalt.
      Umspielen dich, dich zu verführen
      eins zu werden mit ihrer kühlen Umarmung.

      Deine Wellen schlugen hoch,
      gepeitscht vom Sturm der Verzweiflung.
      Die Seele reinzuwaschen von ihrem Schmerz.
      Der Moder der Zeit ist verflogen,
      zurück geblieben ein Kiesel aus Stein.

      Licht wolltest du in die Dunkelheit bringen.
      Abwaschen, was belastend nach unten zog.
      Die Mauern, die scheinbar schützenden,
      hast du mit deiner Kraft fortgespült.
      Hindernisse auf deinem ewigen Weg.

      Inzwischen bist du wieder still geworden.
      Sonnenstrahlen teilen deine lieblichen Wellen.
      Spielerisch, leicht, tödlich zugleich.
      Versteckst du, was tief in dir verborgen.
      Lädst ein zu erkunden der Tiefe Schlund.

      Mich deinem Spiel ergeben
      möchte ich eintauchen und nur noch sein.
      Loslassen, wo Nichts den Halt mehr gab.
      Treiben im See der Zeit.
      Verklingen als Tropfen in dir.
      Stille - sie ist leise, sehr leise;
      so, dass man sie kaum hören kann.
      Doch wer hört schon hin?

      Sie ist da, wie ein Schrei - für den, der sie hört.
      Er hört nämlich - nichts.
      Und das tut weh.

      Stille - sie ist perfekt.
      Nichts stört ihre Komposition.
      Sie wirkt harmonisch - und zerstört.

      Stille - man kann sie genießen. Nichts ist laut.
      Es ist so, als ob nichts da sei,
      die Unendlichkeit.

      Stille - nur in wenigen Momenten des Lebens tritt sie auf.
      Sie ist nicht perfekt. Es sickert was durch,
      Unzulänglichkeit der Welt.

      Die schlimmste Stille ist
      unter Menschen
      sie zu empfinden.

      Kinder sind still.
      Keiner hört ihre Schreie.
      Wir haben verlernt, sie zu hören.

      Stille ist eine Tugend.
      Sie eröffnet viele Möglichkeiten für den,
      der sie hört.

      Ein Ton ist einmalig. Er entsteht, er wurde erzeugt.
      Er existiert und
      er kann sie nicht unterbrechen.

      Er vergeht.
      In der Unendlichkeit der Stille hat er Wellen g*schl*g*n.
      Nichts erinnert an ihn.

      Wir sind wie Töne - laute Geräusche im Meer der Unendlichkeit.
      Wurden erzeugt und erzeugen
      nichts.

      Wir wollen die Stille zerstören, durch uns,
      zerreißen, sie laut werden lassen.
      Doch es wird nur noch stiller.

      Wir erfahren sie nicht.
      Sie ist nur da, eben leise, still,
      diese Stille.

      Ich bin?


      Still
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