Elfenspiegel
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Alles ist so dunkel. Die Wellen der Traurigkeit
schlagen über mir zusammen.
Du möchtest dagegen anrennen,
Sturm dagegen laufen,
aber du weißt gar nicht wofür.
Die „Frage wofür mache ich das alles“
kann mir keiner beantworten.
Jahrelang habe ich gedacht, dass die Überforderung
von mir in meiner Kindheit schuld an allem sei.
Heute habe ich das Gefühl, dass diese Überforderungen
wie ein Strickmuster falsche Maschen in mir gesetzt haben.
Im Laufe meiner Entwicklung, meines Lebens, haben sich diese Maschen
auf eine ganz eigene Weise weiterentwickelt und verändert.
Heute sind die Maschen so, als wenn sie aus Stahldraht gestrickt wurden.
Neue „falsche“ Maschen haben sich an den bestehenden angedockt
und mit zur Veränderung beigetragen.
Heute liegt das wirre Mosaik der Maschen und Strickmuster vor
und umspannt mich wie eine unzerreißbare Hülle.
Immer wenn ich das Gefühl hatte,
du bist wieder ein Stück auf dem Weg,
die Maschen neu zu ordnen,
ihr Geflecht neu zu strukturieren,
so schlagen Ereignisse von außen durch und verfestigen
eher das bestehende Geflecht oder reißen neue große Löcher,
so dass selbst in dem bestehenden Geflecht nichts mehr stimmt.
Diese Auf- und Abbewegung tendiert
leider nicht in der positiven Richtung.
Maschenfehler werden verstärkt,
neue Maschenfehler kommen hinzu
oder verändern das Gefüge
zu einem Teppich aus riesengroßen Löchern.
Nichts kann mit diesem Muster mehr geleistet werden.
Wäre ich ein Netz aus diesen Maschen,
so ist dieses Netz unbrauchbar geworden,
riesige Löcher, Fehlstellen und morsche Restverbindungen
verbieten die weiter Nutzung des Netzes.
Es besteht die große Gefahr,
dass selbst dieser Fleckenteppich noch zerreißt.
Was dann übrig bleibt?
Wer weiß das oder kann das prognostizieren.
Es scheint keinerlei Veränderung in positiver Richtung zu geben.
-
Es war der Sonnabend des ersten Advents. Im Haus rumorte es schon den ganzen Tag. Aus allen Wohnungen hörte man Erwachsene sprechen und auch ab und an Kinder dazwischen rufen. Wenn man es versuchte und genau hinhörte, dann konnte man Sätze verstehen wie: „Wo sind denn die Kerzen?“ oder „Das Tannengrün ist aber nicht sehr frisch“. Aber man hörte auch Sätze wie: „Kommt das Christkind bald?“ oder „Lebt der Weihnachtsmann noch?“ Das Stimmengewirr schlich sich wie ein Dieb aus den Wohnungen und füllte das Treppenhaus von oben bis unten.
Aus einer Wohnung drang kein Gemurmel. Da waren keine Sätze zu hören. Und auch außen an der Wohnungstür war kein Schmuckband oder ein Zweig oder sonst eine vorweihnachtliche Dekoration zu sehen.
Eine alte Frau saß in ihrem Wohnzimmer der kleinen Zweizimmerwohnung am Esstisch. Die Wände des Wohnzimmers sprachen eine Sprache wie vor langer Zeit. Die Tapete zierte ein leicht grünes Zopfmuster. Auf einer kleinen dunklen Kommode standen einige Fotos in silbernen Rahmen. Da war eine junge Frau zu sehen, mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Da war ein junger Mann abgebildet, der einen Jungen auf einem Bobby-Car schob. Da stand das Foto einer jungen Familie, die – wie es dem Foto nach schien, gerade den ersten Advent feierten. Ein Kranz mit fünf Kerzen war zu sehen, von denen aber keine leuchtete. Die alte Frau saß am Tisch und blickte die Bilder an. Erinnerungen kamen auf. Immer zum ersten Advent kamen die Erinnerungen auf. Wie sie damals gemeinsam den Adventskranz geschmückt hatten und ihr Sohn darauf bestand, dass er fünf Kerzen haben sollte. Als sie ihn damals gefragt hatten, warum er denn unbedingt fünf Kerzen auf den Kranz gesteckt haben wollte, hatte er mit ernster Miene geantwortet: „Na ist doch klar; vier Kerzen für jeden Sonntag.“ „Und die fünfte?“ hatten sie zurückgefragt. „Die fünfte Kerze ist für alle die Kinder, die keinen Advent, die kein Weihnachtsfest feiern können.“ Damals waren die Eltern sprachlos. Aber seit jenem Tag hatte ihr Adventskranz fünf Kerzen darauf verteilt. Mit jedem Adventssonntag wurde eine Kerze angezündet und gleichzeitig die fünfte. So hatte es sich ihr Sohn damals gewünscht. Und so hatten sie es immer gehalten, gehalten bis damals der Türsummer der Wohnungstür schnarrte.
Als sie freudestrahlend die Tür öffnete, standen jedoch nicht ihr Mann und ihr Sohn draußen, sondern zwei fremde Männer. „Guten Tag Frau Schmidt.“ Hatten sie gesagt. „Wir müssen mit ihnen sprechen.“ hatten sie gesagt und dabei erklärend ihre Ausweise gezeigt. Der Boden sank unter den Füßen der Frau weg, die Männer konnten sie gerade noch abfangen. Sie führten sie in ihr Wohnzimmer und setzten sie auf einen Stuhl. Dann hatten sich die Männer zu ihr an den Tisch gesetzt und ihr die Nachricht übermittelt. Auf dem Tisch stand der Adventskranz mit den fünf Kerzen.
Ein Mann sei mit seinem Auto mit erhöhter Geschwindigkeit über eine Kreuzung gefahren und habe dabei den Mann und das Kind auf dem Zebrastreifen übersehen. Der Mann und das Kind wurden von dem Auto erfasst und zu Boden geschleudert. Obwohl sehr schnell der Rettungswagen und ein Rettungsarzt an der Unfallstelle eingetroffen waren, konnten sie das Leben des Mannes und das Leben des Kindes nicht mehr retten. Bei dieser Nachricht war damals die junge Frau weinend zusammengebrochen. Sie musste ins Krankenhaus gebracht und medizinisch versorgt werden.
Als sie nach zwei Tagen wieder nach Hause entlassen wurde, hatten sich die Nachbarn ihres Wohnhauses rührend um sie gekümmert. Alle waren da und hatten immer wieder gefragt, ob und wie sie ihr helfen könnten.
Schwer war der Weg gewesen, den sie gestützt auf den Arm eines Nachbarn, eine Woche später gehen musste. Alle Nachbarn hatten sie auf diesem schweren Weg begleitet. Hatten sie am Ende der Trauerfeier in den Arm genommen und versucht, sie mit liebevollen Worten zu trösten. An das Fußende des Grabes hatte sie eine Kerze gestellt, eine kleine rote Kerze. Es war die fünfte Kerze ihres Adventskranzes.
Lange hatte sie gebraucht, das schreckliche Unglück zu verarbeiten. Wie mit Ohren betäubendem Krachen war Traurigkeit in ihr bis dahin unbeschwertes Leben eingebrochen und hatte die Welt verändert. Der Fahrer des Unfallautos war mit einer hohen Geldbuße und dem Entzug der Fahrerlaubnis bestraft worden. Aber das war ihr damals gleichgültig gewesen, als sie die Notiz in der Zeitung las. Auch zum Gerichtstermin, zur Verhandlung des Unfallhergangs, hatte sie sich vom Arzt befreien lassen. Sie wollte diesem Mann nicht begegnen, nie wollte sie ihm begegnen.
Jahre später, irgendwann hatte sie dann wieder angefangen, zum Advent einen kleinen Adventskranz auf den Tisch zu stellen. Dieser Adventskranz hatte fünf Kerzen. Die eine davon war eine kleine rote. Sie hatte eine kleine rote Kerze gekauft, so eine, wie ihr Sohn sie damals auf den Kranz gesteckt hatte. Immer wenn es der erste Advent war, saß sie dann weinend am Esstisch und hatte die Bilder vor Augen. Da war das helle unbeschwerte Lachen ihres kleinen Sohnes und da war die dunkle etwas rauh und unbeholfen klingende Stimme ihres Mannes. Immer hatte sie diese Szenen vor Augen, hatte diese Klänge im Ohr.
In den ersten Jahren nach dem Unglücksfall hatten die Nachbarn noch an ihrer Wohnungstür geklingelt, sie besucht und in diesen schweren Momenten getröstet. Später dann waren es dann nur noch ein, zwei Anrufe gewesen, die nach ihrem Befinden fragten. Wieder ein paar Jahre später war es dann still geblieben. Seitdem war das Leben, war ihr Leben still verlaufen.
Nur die Bilder auf der Kommode und im Advent der Kranz mit den fünf Kerzen erinnerte in diesen Stunden der Trauer an die Vergangenheit. Irgendwann war auch die kleine rote Kerze schon ganz krumm und schief geworden und sie hatte sie durch eine neue kleine Kerze ersetzt. Aber die alte kleine Kerze wegwerfen hatte sie sich nicht getraut. -
Ein kräftiges Schnarren riss die alte Frau aus ihren Gedanken. Wer konnte heute etwas von ihr wollen? Sie stand auf und ging an die Wohnungstür. Ein Blick durch den Türspion – ein älterer Mann stand vor der Wohnungstür. Vertrauenserweckend sah er ja nicht aus. Eher wie jemand, der nicht viel hatte und vielleicht sogar sein Leben auf der Straße verbrachte. Sollte sie aufmachen oder doch lieber die Tür geschlossen halten? Sie nahm all ihren Mut zusammen und fragte durch die Tür hindurch: „Was wollen Sie?“ So wie der Mann antwortete, ließ die Unruhe in ihr nach und sie öffnete ihm die Wohnungstür. „Ich wollte Sie nicht sehen – ich wollte Sie nie sehen.“ „Das kann ich verstehen“, antwortete der Mann. „Ich wollte nach den ganzen Jahren einfach nach Ihnen sehen. Ich wollte Ihnen mein tiefes Bedauern sagen. Ich wollte der Frau in die Augen schauen, der ich durch meine Schuld so viel Leid zugefügt habe, deren Familie ich damals zerstört habe. Und … ich wollte Sie um Verzeihung bitten.“
Nach einigen Momenten des Zögerns öffnete sie die Wohnungstür ganz und ließ den Mann eintreten. Lange saßen sie zusammen am Esstisch und schauten schweigend auf den Adventskranz mit den fünf Kerzen. Nach einer Weile, fast schien es wie die Unendlichkeit, sagte die alte Frau: „Unser Adventskranz …“ Sie verbesserte sich. „Mein Adventskranz …“ Sie verbesserte sich noch einmal „unser Adventskranz hat fünf Kerzen.“ Nach wieder einer langen Weile des gemeinsamen Schweigens fuhr sie fort und erzählte dem Mann die Geschichte. Die Geschichte der fünften Kerze. Kein Ton war zu hören. Auch aus dem ganzen Wohnhaus drang kein einziger Ton. Dann fragte sie den Mann, wie es ihm ergangen sei, nach diesem Ereignis.
Er war arbeitslos geworden, seine Frau hatte sich damals danach scheiden lassen. Mit kraftloser Stimme sagte er: „seitdem lebe ich auf der Straße. Ich kann diesen Moment, diese Schuld nicht vergessen.“
Lange saßen sie da, schweigend, wie es schien: jeder in seine Gedanken versunken.
„Ich muss jetzt gehen, habe Sie schon lange genug belästigt. Bitte verzeihen Sie mir.“ sprach der Mann, stand langsam vom Esstisch auf und ging zur Wohnungstür. „Warten Sie, warten Sie einen Moment.“ Zögerlich blieb der Mann im Flurbereich stehen. „Ich gebe Ihnen was zu Essen mit, wenn das recht für Sie ist?“ Der Mann schaute sie halb staunend halb fragend von oben bis unten an: „Sie wollen mir etwas zu essen geben?“ „Ja“ war nur kurz ihre Antwort, „einen Moment“. Dann verschwand sie und man hörte ein Rumoren aus der Küche. Es musste die Küche sein, denn es hörte sich nach dem Klappern von Tellern und Besteck an. Dann erschien sie wieder, mit einer gefüllten Plastiktüte in der Hand. „Da ist was zu essen drin. Bitte!“
Langsam nahm der Mann die Tüte entgegen, seine Augen bekamen einen feuchten Glanz. „Danke“, sagte er nur. Dann drehte er sich um und ging durch die Wohnungstür. Nach wenigen Sekunden verhallten seine leicht schlurfenden Schritte im Hausflur, die Hauseingangstür fiel klappend ins Schloss.
Die alte Frau schloss die Wohnungstür und setzte sich wieder auf ihren Stuhl am Esstisch. Jahrzehnte hatte sie auf diesem Stuhl gesessen, hatte an den Adventssonntagen gesessen, die verblichenen Fotos auf der Kommode betrachtet und hatte geweint. Heute saß sie wieder am Esstisch und blickte die Bilder an, die Bilder Ihres kleinen Sohnes von damals, die Bilder ihres Mannes von damals. Tränen rannen wieder über ihr Gesicht. Heute tat es gut zu weinen. Sie spürte Erleichterung. Irgendwie fühlte sich ihr Herz leicht an, leichter als all die Jahre zuvor.
Dann zündete sie die erste Kerze des kleinen Adventskranzes an – und die fünfte Kerze. Das Licht der Kerzen zauberte einen sanften Hauch in ihre Augen und auf ihr Gesicht. Frieden war eingekehrt.
Der Mann war in den Park, den Stadtpark gegangen. Bei sich trug er eine gefüllte Plastiktüte. Er setzte sich etwas abseits auf eine Parkbank und begann, die Tüte zu öffnen. Darin waren mehrere Päckchen in Butterbrotpapier eingewickelt und ein weiteres kleines Päckchen – in grünem Papier. Ein leichter Duft von Essen stieg ihm in die Nase. Drei Butterbrote, drei Scheiben Fleisch, ein paar Nüsse, eine Apfelsine lagen ausgebreitet in seinen Händen. Tränen liefen ihm über die Wangen. Mit zittrigen Händen nahm er das letzte Päckchen – das im grünen Papier und öffnete es. Beklommenheit erfasste ihn. Eine kleine krumme rote Kerze war in ein Stück Papier eingewickelt. Die Spuren der Zeit waren deutlich zu sehen. Weitere Tränen bahnten sich ihren Weg über das Gesicht des Mannes. Er rollte das Papier auf und las die Worte: die kleine rote Kerze meines Sohnes ist für alle die, die kein Weihnachtsfest feiern können.
Ein lautes Schluchzen entrang sich seiner Brust. Durch die Tränen hindurch blickte er abwechselnd auf die kleine rote Kerze und das Stück Papier. Lange noch saß der Mann auf der Bank, die Kerze und das Stück Papier in den Händen.
Wie es der Zufall wollte, oder war es doch eine Fügung des Himmels, aber wer weiß das schon so genau, ging die alte Frau durch den Park, ging den Weg entlang, an einer Bank vorbei. Wie mit einer unsichtbaren Decke legte sich der Winterabend bereits über den Park. An einem Baumstamm nahe der Bank leuchtete ein kleiner gelbroter Punkt durch die Dämmerung. Die Frau ging hin zu dem Baum. Dort brannte mit ruhigem Schein eine kleine rote Kerze, ihre Kerze. Darunter lag ein bisschen eingeklemmt ein kleiner Zettel. Sie hob den Zettel auf, faltete ihn auseinander und las die Worte: Verzeih mir, kleiner Stern.
Sanft legte sich das dunkle Blau des Abendhimmels über den Park und hüllte alles ein: eine alte Frau, die einen kleinen Zettel an ihr Herz drückte, einen Mann, der abseits stehend die Szene beobachtet hatte, Tränen rannen über sein Gesicht, und eine kleine rote Kerze, die mit ihrem warmen Schein die Herzen erleuchtete. -
Ich wollte nur ein Mensch sein
ein Mensch sein wie ihr.
Liebe geben und Liebe empfinden.
Geborgen sein in den Armen des Lebens.
Das Leben meinte es gut.
Ich verdiene diese Güte nicht.
Habe verdammt und wurde verdammt.
Flammen der Vergeltung brennen in mir
Vergeltung, die mich trifft.
Das Leben überlegte.
Schmerzen verbrennen mich.
Lodernde Flammen des Schmerzes.
Züngeln empor mich zu empfangen.
Umarmung eines Geliebten.
Das Leben traf die Entscheidung.
Fühle Schmerzen, fühle Verdammnis.
Aufgefressen von der Traurigkeit.
Spüre die Ohnmacht
spüre deine Endlichkeit.
Das Leben ging weiter.
Welt - sie drehte sich
Begrub das Leid.
Begrub den Schmerz.
Seele eines Kindes – für immer verloren. -
Erst denken, dann leben.
Erst Leben, dann Denken.
Ich lebte, ich dachte, ich ...
Ich dachte, ich lebe, ich ...
ich denke nicht mehr,
ich lebe nicht mehr.
Denke - um zu leben - oder
Lebe - und denke nicht mehr.
Ich will doch nur leben ...
aber ich denke.
Ich will doch nur leben ...
aber ich fühle nichts mehr.
Ich fühle ...
ich lebe nicht mehr.
Leben, Denken, Fühlen - ich ...
nicht mehr. -
Zwei Züge rollen in den Bahnhof. Türen klappen, Stimmen schwirren durch die Luft. Zwei Waggons begegnen sich, zwei Abteile, zwei Fensterscheiben.
Dahinter zwei Menschen, zwei Gesichter. Zwei Augenpaare begegnen sich.
Ein Lächeln huscht über dein Gesicht, lässt die Geräusche um dich herum vergessen. Zwei Blicke kreuzen sich, scheinen sich ineinander zu versenken. Wie durch einen dichten Nebel dringen die Geräusche nur noch zu dir.
Die Blicke scheinen miteinander zu sprechen: wo kommst du her? Wo willst du hin?
Tief ineinander versunken, begegnen sie sich, um einer anderen Welt Platz zu machen. Kein Laut mehr kann diese Szene stören. Wie vereinigt, einer neuen Welt zuströmend verhaften sie ineinander. Ein Lächeln erzeugt das andere, eine Geste erzeugt die andere, ein Blick erzeugt den anderen. Ein Moment, Unendlichkeit. Es ist nie anders gewesen.
Ein Ruck durchläuft das Bild, Bewegung. Ist es dein Zug? Ist es der andere Zug? Du weißt es nicht. Langsam schieben sich die Fenster aneinander vorbei. Blicke kreuzen sich. Wie durch eine unsichtbare Hand bewegt, hebst du die Hand zum Gruß. Ein leichtes Winken, ein letztes Lächeln.
In dem Gewirr von Gleisen schiebt sich der stählerne Wurm hinaus, hinaus auf seinem Weg.
Geräusche klingen an dein Ohr, Stimmengewirr, irgendwo klappen Türen. Ein Ruck, auch du setzt dich in Bewegung. Auch dein stählerner Wurm schiebt sich hinaus – hinaus in die Welt, immer seinen Schienen folgend.
Für einen Moment wart ihr zusammen, zwei Züge, zwei Fenster, zwei Menschen. In dem unendlichen Meer der Zeit wart ihr zusammen. Einen Augenblick, einen Moment, euer Augenblick, euer Moment.
Die Schienen führen euch auseinander, scheinen sich zu verlieren in der Unendlichkeit am Horizont. Jeder fährt in seinem Zug. Du blickst durch die Scheibe. Wie durch einen Schleier siehst du sie, diesen Blick, diese Augen. Deine Gedanken, sie malen dieses Bild - wie auf eine Leinwand. Und du rollst hinaus, tauchst wieder ein in deine Welt, folgst mit deinem Zug den Schienen.
Für einen Moment hattest du das Gefühl, deine Schienen waren verschmolzen mit den Schienen des anderen. Dein Weg war sein Weg. Dein Blick war sein Blick, deine Gedanken waren seine Gedanken.
Züge -
Du stehst am Bahnhof.
Wie Finger einer Hand zeigen die Gleise
ihre stählerne Spur, flimmernd, bis in den Horizont.
Züge hasten an dir vorbei.
Der neue noch strahlende ICE.
Selbst das Typenschild hat noch keinen Kratzer.
Ein schlanker Wurm,
mit den Hufen scharrend in seinem Ungestüm.
Vorwärts will er preschen in die Welt hinaus.
Keiner sollte sich ihm in den Weg stellen,
dem neuen Triumphator.
Da ist die Lok,
die ihre Stromzange zum Himmel reckt.
Kraft suchend
von der starken Hochstromleitung.
Erst gestern generalüberholt
will sie ihre Last schon ziehen.
Das hat sie bisher immer geschafft.
Da ist der Triebwagen.
Er wird nur im Nahbereich eingesetzt.
Unermüdlich pendelt er auf seiner Strecke, stündlich,
die Menschen an ihr Ziel zu bringen.
Meist ist auf ihn Verlass.
Nur gegen die großen Stürme
ist er machtlos, reicht seine Kraft nicht.
Schwer schnaufend das Ungetüm,
die Diesellok. Ihren schwarzen Atem
stößt ächzend sie in das Blau des Himmels.
Siebzig Schwerlastwaggons hat sie immer bewegt.
Viele Jahre konnte man sie beobachten
das schwarze Gold der Erde zu ziehen.
Das Rad der Welt wurde sie damals genannt.
Die alte verdreckte, schwer schnaufende
Rangierlok zieht brav ihre Spur.
Qualvoll war es,
bei jedem Wetter dem stählernen Lindwurm zu folgen.
Heute wird sie ausgemustert.
Der Aufwand, in sie noch zu investieren
erscheint zu hoch, zu gering der Gewinn.
Ganz am Rande, weitab allen Geschehens,
drehen quietschend und ächzend der alten Dampflok Räder.
Streicheln mit verblichener einst roter Hand
die Stahlspur, der Weg ihres Lebens.
Einst führte sie Menschen an ihr Ziel.
Langsam rückwärtsfahrend entflieht sie
dem Gedröhn des Lautsprechers am Bahnsteig.
Wenn du einmal Zeit hast,
stehst wartend am Bahnsteig,
blickst deinem Zug entgegen-
der Zug, der seine letzte Reise antritt.
Vielleicht siehst du dann das Blau des Himmels
und spürst noch einmal die Kraft der Sonne.
Dann wird er ertönen der Pfiff des Schaffners,
und du wirst antreten deine letzte Fahrt.
-
Du wirst fragen: wann
... Und sie werden antworten: zu ihrer Zeit
Du wirst fragen: wer
... Und sie werden antworten: eine Frau
Du wirst fragen: weshalb
... Und sie werden antworten: sie war müde
Du wirst fragen: wie
... Und sie werden antworten: sie ist gegangen
Du wirst fragen: wo
... Und sie werden antworten: nebenan
Du wirst fragen: wodurch
... Und sie werden antworten: das Leben
Du wirst fragen: wohin
... Und sie werden antworten: an ihren Ort
Du wirst fragen: wozu
... Und sie werden antworten: einfach so
Du wirst fragen: und ich
... Und sie werden antworten: geh deinen Weg. -
Klinkst dich aus - der Speicher leer,
unendlich leer, wie schon lange,
verbrannt der letzte Krümel deiner selbst.
Der Anruf, sollte nett sein,
Rückkehr, hallo,
doch dann …
Der Boden unter deinen Füßen bebt.
Donnergrollen, Kluften öffnen sich,
Touch down.
Wut, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit
du darfst nicht zeigen
Scham, Ende, endlose Leere.
Musst doch funktionieren
musst doch übermitteln
die Botschaft des Vertrauens,
der Liebe, des Verstehens.
Wer richtet dich auf,
wenn das Feuer des Zweifels dich frisst?
Wer richtet dich auf,
wenn Liebe Schmerz bringt und …?
Wer …?
Liebe
Glauben
Vertrauen
Verstehen
Und ich? Warum gewinnst du nicht endlich?
-
Unscheinbar, fast nicht vorhanden, leuchtet es.
Leuchtet und sendet Licht, für sich, für dich, für alle.
Sicher gibt es hellere Lichtquellen, stark und gleisend.
Doch sie vermögen nicht dieses Licht zu spenden.
Wenn der Wind des Lebens bläst, flackert das Licht,
entzieht dem Moment und dem Hier seine Helligkeit
beleuchtet dabei Bereiche, die bislang im Dunkeln lagen.
Seine Stetigkeit, seine strahlende Wärme dauert an.
Manches Licht kann diesem Wind nicht standhalten.
Fast wie ein Kampf von Urgewalten wirkt der Moment
um dann zu verlöschen. Dunkelheit kehrt ein.
Die Wissenschaft sagt, Licht geht nicht verloren.
Manche Beziehung zu einem Menschen,
manche Liebe oder Freundschaft,
manches sich Jemandem zuwenden
kann wie solch ein Kerzenlicht sein.
Wenn alle Lichter dieser Welt ausgehen, für immer verlöschen,
dann wird dieses Licht für einen Menschen
das hellste und wärmste Licht sein,
was für ihn auf seinem Lebensweg leuchtete.
Liebe, Freundschaft, Mitgefühl,
für den Anderen da sein, ihm einen Teil deiner Kraft schenken,
ihm zugewendet sein, auch wenn er dich leugnet
dann bist du wie die Kerze und ihr Licht.
Wenn du mich fragst:
wie kann ich Spuren im Sand des Lebens hinterlassen?
sage ich dir: sei wie die Kerze. Spende dein Licht.
Diese Spuren sind unendlich, eingegraben in die Dunkelheit des Alls.
Und wenn es schon nicht mehr den Sand des Lebens geben wird,
wird es der Schein dieser Kerze sein,
der die Dunkelheit erhellen wird,
für mich, für dich, für den anderen Menschen. -
Zeit, du bist da und wir ...
wir lassen dich vergehen, vergeuden;
so, als wärest du unendlich,
als gäbe es dich in unermesslicher Fülle.
Doch sind mit dir verbunden Anfang und Ende,
jeder Augenblick von dir ist - Zeit
und schon bist du vorüber.
Wir wollen dich greifen, halten für immer,
stillhalten, dich zu erleben.
Doch wo bist du?
Wir, du und ich, sollten einen Vertrag schließen
auf immerwährende Zeit - zu meinen Gunsten.
Doch dein Anwalt ist hart, unerbittlich die Bedingungen,
Ewigkeit das Verlangen.
Und während wir all dies planten und strebten
warst du vorbei.
Du kamst und warst da ...
und du gingst leise.
Zeit - ich habe dich nicht gehört.
Wo bist du? Wohin gehst du?
Ich wünsche dir Zeit. -
-
Du wirst ins Leben geworfen
niemand hat dich gefragt
niemand wollt dich haben
Wer will schon Sand?
Dann bist du gewachsen
niemand hat dich gefragt
hast Schulfreundinnen gehabt
Wer will schon Sand?
Du hast dein Leben organisiert
hast studiert und arbeitest
hast ein paar Kolleginnen gehabt
Wer will schon Sand?
Hab gestern den Müll weggebracht
waren viele Erinnerungen dabei
hab liebe Eltern gehabt
Wer will schon Sand?
Steh an meinem Grenzstein
steh an meinem Abgrund
hab lieben Partner
Wer will schon Sand?
Mischen, vermengen
wirbelndes Durcheinander
Ruhe, endlich Ruhe
Wer will schon Sand?
Bin ich du, bin ich ich,
ich bin niemand
Niemand, Stille, Nichts
Wer will schon Sand?
Wärme, Kälte
Leben, Kälte
Sterben, Kälte
Wer will schon Sand?
-
Gestern konnte ich noch lange nicht schlafen.
Gedanken wirbelten durch meinen Kopf.
Ich wollte die Welt verändern -
doch wie sehr ich mich auch mühte
ich schaffte es nicht.
Ich wollte meine kleine Welt verändern -
doch wie sehr ich mich auch mühte
ich schaffte es nicht.
Ich wollte dich verändern -
doch wie sehr ich mich auch mühte
ich schaffte es nicht.
Irgendwann fing ich an
ich wollte mich verändern -
doch wie sehr ich mich auch mühte
ich schaffte es nicht. -
Ich wollte ein Zuhause für mich und meine Mama
ein kleines Mädchen wollte es so
aber es hatte keine Chance?
Ich wollte ein Zuhause für mich und meine Träume
ein kleines Mädchen wollte es so
aber es hatte keine Chance?
Ich wollte ein Zuhause für mich und meine Liebe
ein kleines Mädchen wollte es so
aber es hatte keine Chance?
Ich wollte ein Zuhause für mich
ein kleines Mädchen wollte es so
aber es hatte keine Chance?
Wenn ein kleines Mädchen ein Zuhause sucht
hatte es eine Chance?
Ich weiß es nicht.
-
Nichts. Er ist wertvoll von Geburt an.
Und nichts, ich sage dir – nichts – kann das ändern.
Ein Kind ist wertvoll,
einfach weil es da ist,
weil es lebt,
weil es das Kind gibt.
Es muss nichts machen,
es muss niemandem gefallen,
es kennt kein Geld und
es kennt keinen Wert.
Was dich wertvoll macht?
Frag das Kind.
Es liebt dich,
weil du einfach neben ihm stehst
weil es gerade eben dich anschauen mag
weil es gerade dir seine Hand geben mag.
Wenn ein Kind deine Hand nimmt,
wenn ein Freund deine Hand nimmt,
dann spüre es und freue dich darüber.
Denn du bist wertvoll, einfach so
für immer und ewig
ohne Einschränkung und ohne Bedingung,
einfach weil du bist. -
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Alle klagen
reden
jammern darüber
und dann
gehen sie weiter
machen weiter
tun so
als ob nichts wäre
blicken höchstens
verschämt zur Seite
verlegenes Lachen
wenn überhaupt
oder Wut
schlägt dir entgegen
ertappt
wenn überhaupt
Der Schmutz
über den sie alle
reden
tuscheln
lachen
der bin ich. -
Es ist nicht der Maler,
es sind seine Bilder.
Es ist nicht der Bildhauer,
es sind seine Skulpturen.
Es ist nicht der Komponist,
es sind seine Lieder.
Es ist nicht der Musiker,
es sind seine Töne.
Es ist nicht der Dichter,
es sind seine Worte.
Es ist nicht der Schriftsteller,
es sind seine Texte.
Es ist nicht der Arzt,
es ist seine Medizin.
Es ist nicht der Lehrer,
es ist sein Wissen.
Es ist nicht der Philosoph,
es sind seine Gedanken.
Es ist nicht der Theologe,
es ist sein Glaube.
Es sind die Worte und Werke.
Doch ohne die Menschen …
wären die Worte und Werke nicht da.
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