Ich wollte über dich schreiben. Die letzten Tage waren sehr bewegend. Dann aber fiel mir auf: das geht nicht. Ich kann nicht über dich schreiben … ich kann nur über uns schreiben.
Wenn ich so zurückdenke, dann fällt mir als einschneidendes Erlebnis ein Sonntagsausflug mit meinen Eltern und meinem Bruder ein. Es war ein Tag im Mai, fast so wie heute. Meine Eltern hatten uns geweckt mit den Worten: „Aufstehn, ihr Schlafmützen. Wir machen einen Ausflug, denn es ist wunderschönes Wetter.“ Mit diesen Worten begann ein Tag, der im Nachhinein betrachtet, ein Meilenstein in meinem Leben werden sollte. Damals, als kleines Mädchen, habe ich davon noch nichts geahnt.
Wir waren gespannt. Wohin sollte unser Ausflug gehen?
Schließlich waren wir angekommen. Beklommen stieg ich aus dem Auto aus. Was sich da vor mir zeigte, erzeugte eine eigenartige Stimmung in mir. Am Eingang erhob sich ein riesengroßes rotes Tor. Dagegen wirkten selbst die Erwachsenen wie kleine Spielzeugfiguren. Seltsame Schriftzeichen waren auf einem Plakat daneben angebracht. Meine Eltern sagten: „das ist unsere Überraschung. Da gehen wir jetzt hinein und machen uns einen schönen Tag. Übrigens werden wir auch an einem kleinen See ein Picknick machen.“
Was für ein Tag.
Ich hatte überhaupt keine Vorstellung, was mich erwartete. Überall sah ich geschwungene Wege. Grün belaubte Farnwedel wechselten ab mit rot- oder lila blühenden kleinen Büschen. Irgendwo gluckerte Wasser. Ein Summen und Brummen war in der Luft. Schmetterlinge schwirrten mit den Vögeln um die Wette. Doch neben all den Tönen und Geräuschen war da etwas Eigenartiges. Das alles wirkte irgendwie nicht laut. Wenn ich es beschreiben wollte - es wirkte auf mich fast schon wie … Musik, ja … wie Musik. All die Geräusche und Töne klangen wie die Instrumente eines riesengroßen Orchesters, eines Naturorchesters, wenn ihr versteht. Und ich mittendrin. Ich glaube, ich war damals schrecklich aufgeregt und richtig berührt.
Auf einer kleinen Lichtung an einem mit größeren Felsbrocken eingefassten See sah ich ihn das erste Mal. Mein Mund ging nicht mehr zu.
Das hatte ich noch nie gesehen. Einen Baum mit feuerroten Ästen und grünen gezackten Blättern. Und selbst diese Blätter hatten einen schmalen feuerroten Rand. Er sah traumhaft schön aus, wie er da so stand. So etwas hatte ich noch nie gesehen. An einer Tafel schräg daneben war ein eigenartiges Bild aufgehängt. Es zeigte diesen Baum und darunter eine Frau, irgendwie fremdartig wirkend, mit einem weißen langen Gewand und einem kleinen weißen Schirm, den sie aufgespannt trug. Die Frisur dieser Frau wirkte auch absolut merkwürdig, schwarz und wie zu einem Knoten zusammengenommen. Aber da war nicht nur diese Abbildung. Nein, dieses Bild war nicht auf Papier gemalt. Es bestand aus zig feinen Holzstäben, die wie eine Leinwand zusammengebunden waren … und darauf war das Bild gemalt. Meine Augen konnten das alles gar nicht so richtig erfassen. Am Rand dieses Bildes waren Zeichen gemalt, senkrecht untereinander, wie die Botschaft aus einer anderen Welt sahen sie aus. Ich war tief beeindruckt … und stand sicherlich mit offenem Mund davor. So jedenfalls oft später die Schilderung meiner Eltern von diesem Moment.
Aus der Erinnerung kann ich gar nicht mehr sagen, was mich damals mehr beeindruckt hat: das hölzerne Bild mit dieser fremdartigen Frau und den eigenartigen Zeichen oder der Baum mit seinen feuerroten Ästen und den gezackten grünen Blättern mit ihrem feuerroten Rand.
Seit diesem Tag war dieses Bild in mir, hat mich wie ein lebendiges Wesen begleitet. Lacht nicht, ja ich habe es wie ein echt lebendiges Wesen empfunden. Ich muss mich korrigieren: ich habe ihn wie ein echtes lebendiges Wesen empfunden.
Zwei Jahre später war wieder mal mein Geburtstag. Geburtstage waren aufregend, weil ich dann immer ein besonderes Geschenk bekam. Manchmal hatte ich schon so eine Vorahnung, was es sein könnte – oder vielleicht war es auch nur meine Erwartungshaltung. Dieses Mal hatte ich so gar keine Vorstellung. Es war der spannendste Moment, wenn ich ins Zimmer durfte, wo mein Geburtstagstisch auf mich wartete. Selbst die Schlafmütze, mein Bruder, stand da mit meinen Eltern, und sie sangen: „Heute kann es regnen, stürmen oder schneien …“ und dann kam die schönste Stelle für mich: „denn du strahlst ja selber wie der Sonnenschein.“ Mein Bruder hat sicherlich schrecklich gesungen, aber das machte in diesem Moment nichts. Ich hab ihn trotzdem dafür umarmt.
Dann war da das Auspacken. Alle standen oder saßen da und schauten zu. Dieses Mal lag da nur ein langes etwas dickeres Päckchen auf dem Tisch. Ein Kerze mehr als letztes Jahr stand ebenfalls darauf und flackerte mit den anderen vor sich hin. „Du musst sie auspusten und dir was wünschen. Dann darfst du auspacken.“ Ich glaube heute, der war damals mindestens genau so aufgeregt wie ich, seine kleine Schwester.
Schon waren die Kerzen ausgepustet und dann … Das Papier zerriss; aber das, was darin war, war komischerweise nochmals eingewickelt. Dieses Papier fühlte sich weicher an und war halb durchsichtig. Es schimmerten irgendwie eine Art Stäbchen hindurch. Ich glaube, ich muss es nicht weiter spannend machen, was dieses Mal mein Geburtstagsgeschenk war. Du hast es sicher schon erraten. Es war das hölzerne Bild von dieser fremdartigen Frau mit ihrem weißen Schirmchen , wie sie unter diesem Baum stand, der mit seinen feuerroten Ästen. Ich glaube, ich habe damals meinen Mund nicht mehr zugekriegt. Tränen der Freude liefen mir über die Wangen. Meine Mutter fragte besorgt: „Was hast du? Warum weinst du? Freust du dich nicht?“ Ich konnte nur den Kopf schütteln, das Bild schnappen und es an meine Brust drücken.
Ich glaube, damals sind wir eine Verbindung eingegangen – du und ich. Seit diesem Tag hingst du in unserem Kinderzimmer über meinem Bett. Mein Bruder fand dich ja nicht so toll. „Ist doch nur ein Baum“ hat er öfters gesagt. Aber für mich warst du der stärkste, der schönste Baum auf der ganzen Welt. Vielleicht habe ich es im Laufe der Zeit auch hineininterpretiert, denn schon damals weinte meine Mutter oft, wenn mein Vater zum Abendessen nicht nach Hause kam.
Aus der Distanz von heute weiß ich, du wurdest zu meinem Zufluchtsort, warst der Ruhepol meiner kindlichen Ängste. Wenn ich am Abend manchmal geweint habe, hatte ich das Gefühl, als ob deine Blätter sich wie ein schützender Schirm über mich ausbreiteten. Ich habe dann mit dir gesprochen, leise und heimlich. Dann schlief ich oft ein. Mein Bruder fand mich albern, wie er einmal zu mir sagte: „wie kann man nur mit einem Baum sprechen?“
Er hat dich nicht verstanden, er hat mich nicht verstanden. Er hat uns nicht verstanden.
Wenn ich so zurückdenke, dann fällt mir als einschneidendes Erlebnis ein Sonntagsausflug mit meinen Eltern und meinem Bruder ein. Es war ein Tag im Mai, fast so wie heute. Meine Eltern hatten uns geweckt mit den Worten: „Aufstehn, ihr Schlafmützen. Wir machen einen Ausflug, denn es ist wunderschönes Wetter.“ Mit diesen Worten begann ein Tag, der im Nachhinein betrachtet, ein Meilenstein in meinem Leben werden sollte. Damals, als kleines Mädchen, habe ich davon noch nichts geahnt.
Wir waren gespannt. Wohin sollte unser Ausflug gehen?
Schließlich waren wir angekommen. Beklommen stieg ich aus dem Auto aus. Was sich da vor mir zeigte, erzeugte eine eigenartige Stimmung in mir. Am Eingang erhob sich ein riesengroßes rotes Tor. Dagegen wirkten selbst die Erwachsenen wie kleine Spielzeugfiguren. Seltsame Schriftzeichen waren auf einem Plakat daneben angebracht. Meine Eltern sagten: „das ist unsere Überraschung. Da gehen wir jetzt hinein und machen uns einen schönen Tag. Übrigens werden wir auch an einem kleinen See ein Picknick machen.“
Was für ein Tag.
Ich hatte überhaupt keine Vorstellung, was mich erwartete. Überall sah ich geschwungene Wege. Grün belaubte Farnwedel wechselten ab mit rot- oder lila blühenden kleinen Büschen. Irgendwo gluckerte Wasser. Ein Summen und Brummen war in der Luft. Schmetterlinge schwirrten mit den Vögeln um die Wette. Doch neben all den Tönen und Geräuschen war da etwas Eigenartiges. Das alles wirkte irgendwie nicht laut. Wenn ich es beschreiben wollte - es wirkte auf mich fast schon wie … Musik, ja … wie Musik. All die Geräusche und Töne klangen wie die Instrumente eines riesengroßen Orchesters, eines Naturorchesters, wenn ihr versteht. Und ich mittendrin. Ich glaube, ich war damals schrecklich aufgeregt und richtig berührt.
Auf einer kleinen Lichtung an einem mit größeren Felsbrocken eingefassten See sah ich ihn das erste Mal. Mein Mund ging nicht mehr zu.
Das hatte ich noch nie gesehen. Einen Baum mit feuerroten Ästen und grünen gezackten Blättern. Und selbst diese Blätter hatten einen schmalen feuerroten Rand. Er sah traumhaft schön aus, wie er da so stand. So etwas hatte ich noch nie gesehen. An einer Tafel schräg daneben war ein eigenartiges Bild aufgehängt. Es zeigte diesen Baum und darunter eine Frau, irgendwie fremdartig wirkend, mit einem weißen langen Gewand und einem kleinen weißen Schirm, den sie aufgespannt trug. Die Frisur dieser Frau wirkte auch absolut merkwürdig, schwarz und wie zu einem Knoten zusammengenommen. Aber da war nicht nur diese Abbildung. Nein, dieses Bild war nicht auf Papier gemalt. Es bestand aus zig feinen Holzstäben, die wie eine Leinwand zusammengebunden waren … und darauf war das Bild gemalt. Meine Augen konnten das alles gar nicht so richtig erfassen. Am Rand dieses Bildes waren Zeichen gemalt, senkrecht untereinander, wie die Botschaft aus einer anderen Welt sahen sie aus. Ich war tief beeindruckt … und stand sicherlich mit offenem Mund davor. So jedenfalls oft später die Schilderung meiner Eltern von diesem Moment.
Aus der Erinnerung kann ich gar nicht mehr sagen, was mich damals mehr beeindruckt hat: das hölzerne Bild mit dieser fremdartigen Frau und den eigenartigen Zeichen oder der Baum mit seinen feuerroten Ästen und den gezackten grünen Blättern mit ihrem feuerroten Rand.
Seit diesem Tag war dieses Bild in mir, hat mich wie ein lebendiges Wesen begleitet. Lacht nicht, ja ich habe es wie ein echt lebendiges Wesen empfunden. Ich muss mich korrigieren: ich habe ihn wie ein echtes lebendiges Wesen empfunden.
Zwei Jahre später war wieder mal mein Geburtstag. Geburtstage waren aufregend, weil ich dann immer ein besonderes Geschenk bekam. Manchmal hatte ich schon so eine Vorahnung, was es sein könnte – oder vielleicht war es auch nur meine Erwartungshaltung. Dieses Mal hatte ich so gar keine Vorstellung. Es war der spannendste Moment, wenn ich ins Zimmer durfte, wo mein Geburtstagstisch auf mich wartete. Selbst die Schlafmütze, mein Bruder, stand da mit meinen Eltern, und sie sangen: „Heute kann es regnen, stürmen oder schneien …“ und dann kam die schönste Stelle für mich: „denn du strahlst ja selber wie der Sonnenschein.“ Mein Bruder hat sicherlich schrecklich gesungen, aber das machte in diesem Moment nichts. Ich hab ihn trotzdem dafür umarmt.
Dann war da das Auspacken. Alle standen oder saßen da und schauten zu. Dieses Mal lag da nur ein langes etwas dickeres Päckchen auf dem Tisch. Ein Kerze mehr als letztes Jahr stand ebenfalls darauf und flackerte mit den anderen vor sich hin. „Du musst sie auspusten und dir was wünschen. Dann darfst du auspacken.“ Ich glaube heute, der war damals mindestens genau so aufgeregt wie ich, seine kleine Schwester.
Schon waren die Kerzen ausgepustet und dann … Das Papier zerriss; aber das, was darin war, war komischerweise nochmals eingewickelt. Dieses Papier fühlte sich weicher an und war halb durchsichtig. Es schimmerten irgendwie eine Art Stäbchen hindurch. Ich glaube, ich muss es nicht weiter spannend machen, was dieses Mal mein Geburtstagsgeschenk war. Du hast es sicher schon erraten. Es war das hölzerne Bild von dieser fremdartigen Frau mit ihrem weißen Schirmchen , wie sie unter diesem Baum stand, der mit seinen feuerroten Ästen. Ich glaube, ich habe damals meinen Mund nicht mehr zugekriegt. Tränen der Freude liefen mir über die Wangen. Meine Mutter fragte besorgt: „Was hast du? Warum weinst du? Freust du dich nicht?“ Ich konnte nur den Kopf schütteln, das Bild schnappen und es an meine Brust drücken.
Ich glaube, damals sind wir eine Verbindung eingegangen – du und ich. Seit diesem Tag hingst du in unserem Kinderzimmer über meinem Bett. Mein Bruder fand dich ja nicht so toll. „Ist doch nur ein Baum“ hat er öfters gesagt. Aber für mich warst du der stärkste, der schönste Baum auf der ganzen Welt. Vielleicht habe ich es im Laufe der Zeit auch hineininterpretiert, denn schon damals weinte meine Mutter oft, wenn mein Vater zum Abendessen nicht nach Hause kam.
Aus der Distanz von heute weiß ich, du wurdest zu meinem Zufluchtsort, warst der Ruhepol meiner kindlichen Ängste. Wenn ich am Abend manchmal geweint habe, hatte ich das Gefühl, als ob deine Blätter sich wie ein schützender Schirm über mich ausbreiteten. Ich habe dann mit dir gesprochen, leise und heimlich. Dann schlief ich oft ein. Mein Bruder fand mich albern, wie er einmal zu mir sagte: „wie kann man nur mit einem Baum sprechen?“
Er hat dich nicht verstanden, er hat mich nicht verstanden. Er hat uns nicht verstanden.