Amara

      Winterdornköniginzeit

      Das Ende der Wälder, es naht mit dem Wind,
      Was einstmals gegrünt, das zerfrisst nun die Zeit.
      Es gibt keine Seel’n, die vor ihm sicher sind:
      Der Vormarsch des Winters, den Frost im Geleit.

      Wo eben noch Laubwerk von edler Gestalt,
      Da färben sich Blätter zu leuchtendem Rot.
      Wo eben noch Leben war in diesem Wald,
      Da bringen nun Raureif und Nordwind den Tod.

      Der Wind flüstert leise: „Vorbei sei der Tag,
      Das Leben von einst werde fortan zu Staub;
      Gehoben der Schleier, der über ihm lag,
      Verweht wird der Odem und fallen das Laub.“

      Durch Äste und Zweige und Buschwerk er strebt,
      Mit frostigen Fingern durchstreift er die Welt.
      Wo sein Ruf verhallt, da vergeht das, was lebt,
      Kein Baum und kein Strauch, der ihm jemals standhält.

      Der Reif flüstert leise: „Vorbei sei das Glück,
      Das Leben von einst werde fortan zu Schnee.
      Gesenkt wird der Schleier, es gibt kein Zurück:
      Gefroren wird alles, ob Berg oder See.“

      Durch Gräser und Gärten und Beete er zieht,
      Sein eisiger Schritt hinterlässt rauen Frost;
      Und wer es auch wagt und der Kälte entflieht
      Ist doch niemals sicher, ob Süd oder Ost.

      Der Raureif im Gras wird von Schritten gestört.
      Den Winter im Atem, aus Schnee das Gesicht –
      Von tödlicher Schönheit das Land wird betört:
      Die Winterdornkönigin schreitet ins Licht.

      Der silberne Mantel aus Mondschein gemacht;
      Die Stiefel, der Schmuck sind gefertigt aus Eis;
      Aus Frostblut die Lippen, der Körper aus Nacht,
      Erhellt nur vom rein unerbittlichen Weiß:

      Aus Raureif und Frost ward geschaffen ihr Herz,
      Vom Nordwind beseelt, in der Kälte vereint.
      Ein weißer Kristall bar von jeglichem Schmerz:
      Ein Wesen, das nie eine Träne geweint.

      Die Winterdornkönigin lacht und betritt
      Die sterbliche Welt, wird geleitet vom Mond;
      Der Nordwind ihr Bote, mit sicherem Schritt
      Bereist sie das Reich, das sie fortan bewohnt.

      Aus Frost wird ihr Schloss sein, ihr Thron aus Kristall,
      Das Zepter gehauen aus Schneeflockenstein.
      Eiskalt und unendlich wird werden der Fall
      All jener, die wagen, ihr Gegner zu sein.

      So wird sie regieren mit eiskalter Hand
      Ein Reich, das allein ihrer Macht untersteht;
      Und Nordwind wird streifen durch das kühle Land,
      Sich holen all jenes, das ihr widersteht.

      Doch dann, eines Tages, getragen vom Wind,
      Ihr Reich wird gestürzt, wird ein Opfer der Zeit:
      Geboren aus Wärme das südliche Kind
      Wird bringen den Tag, sag, wann ist es soweit?
      Wie der Blick deiner Augen, endlos und weit,
      So schwebst du zwischen hier und dort.
      Gleich weit entfernt von Kälte, gleich weit von Zärtlichkeit.
      Du bleibst nicht hier, und du gehst nicht fort.
      Peter Maffay