Von Vergangenheit geprägt

      Von Vergangenheit geprägt

      Hallo zusammen,

      niemals hätte ich mir vorstellen können, dass mich nochmal etwas in dieses Forum zurückzieht...und nun bin ich doch nochmal da. Vor 12, 13 Jahren war ich noch täglich hier. Um mein "Problem" (ein wirkliches Problem ist es nicht) zu schildern, muss ich ein wenig ausholen.

      Ich habe als Jugendliche einige Jahre unter schweren Depressionen und einer Essstörung gelitten und habe mich in der Zeit auch massiv selbst verletzt. Als ich gemerkt habe, dass ich mich entscheiden muss, ob ich leben oder irgendwann daran sterben will, habe ich eine Therapie begonnen, die mir sehr, sehr geholfen hat. Um es kurz zu machen: 2005 hatte ich den allerletzten Rückfall, mir geht es heute richtig gut, ich bin absolut lebensfroh, optimistisch und merke, dass ich in vielen Situationen psychisch sogar stabiler bin, als andere in meinem Umfeld. Die Ursachen, die damals zu meiner Krankheit geführt haben, habe ich absolut verarbeitet und sie können mir nichts mehr anhaben.

      Nun ist es aber so, dass es immer wieder Situationen gibt, in denen ich merke, dass mich das alles bis jetzt stark prägt. Aufgrund dessen, was ich durchgemacht habe, weiß ich heute extrem zu schätzen, wieviel wert es ist, einfach nur gesund zu sein, ich bin für so vieles dankbar, was andere als selbstverständlich hinnehmen, ich jammere niemals über Kleinigkeiten, weil ich weiß, was wirkliche Probleme sind. Ich kann mich über so vieles freuen, weil ich genau weiß, was Kummer ist.
      Auf Leute, die nichts von meiner Vergangenheit wissen, wirke ich daher sehr tough und manchmal vielleicht auch etwas unempathisch. Zumindest in gewisser Hinsicht. Beispiel: wenn es bei der Arbeit viel zu tun gibt, nehme ich das einfach so hin, bin dankbar für meinen Arbeitsplatz, den ich sehr liebe und lege los. Eine Kollegin fängt in der Situation dann an zu nörgeln und zu jammern und sich zu beschweren, dass es überall anders bestimmt besser wäre. Sorry, ich KANN für so eine Lapalie einfach kein Mitleid empfinden, weil DAS für mich kein Problem ist. Sie hat mir dann schon öfter vorgeworfen (auch hinter meinem Rücken), dass ich eingebildet sei, weil ich einfach kein Mitleid hätte und ihr "Problem" nicht ernst nehmen würde. Dies nur mal als ein Beispiel von vielen Situationen. Ja, es stimmt, ich gehe mit einer gewissen Härte durch's Leben und habe kein Verständnis, wenn Leute, die eigentlich alles haben, denen es gut geht und die gesund sind, wegen nichts und wieder nichts jammern und klagen. Ich stand damals vor der Entscheidung, ob leben oder sterben. Ich wollte immer leben und habe gekämpft wie eine Löwin, auch wenn mir dieser Kampf manchmal alles abverlangt hat. DAS sind für mich Probleme und nicht, ob der Schreibtisch voll ist oder nicht.

      Ich frage mich manchmal, ob man dieses Bewusstsein, was man durchgemacht (und auch erreicht) hat jemals los wird oder ob es für immer ein Teil der Persönlichkeit bleiben wird?! Ist hier jemand, dem es ähnlich geht und der vielleicht versteht, was ich mit meinem Posting sagen möchte!? ;) Falls es etwas wirr ist, tut es mir leid...
      Hey,
      ich weiß nicht, ob ich wirklich was dazu sagen kann, aber ich glaube ich geh damit ein bisschen anders um. Ich bin tendenziell auch so, dass ich mich über "Kleinigkeiten" wie viel Stress in der Ausbildung oder so nicht aufrege, weil es für mich einfach nicht so wichtig ist... Weil ich andere Probleme kenne.
      Allerdings be- und verurteile ich die Leute nicht, die sich über das oder andere Dinge wie "Ich hab keinen Freund" oder so beschweren. Ich finde Leid ist nicht vergleichbar. Und so können solche "Alltagsprobleme" für manche auch sehr belastend sein und aus der Sicht von diesem Menschen genauso hohe, unüberwindbare Berge sein wie mein Trauma für mich. Mir ist es wichtig, dass jeder in seinem Leid gesehen wird, egal wie klein sich das Problem vielleicht anhört.
      Manche meiner Kollegen/Koleginnen haben schon Probleme damit, dass grade Schul/Lernstress total an mir abprallen und mich so schnell (anscheinend) nichts aus der Ruhe bringt. Trotzdem helfe ich auch gerne meinen Mädels in der Ausbildung. Und ab und an hat sich auch rausgestellt, dass sich hinter deren "Alltagsproblemchen" auch noch viel größere Probleme verstecken. Denn meiner Erfahrung nach scheint es oft nur so, als hätten diese Menschen alles und es ginge ihnen gut.
      Deswegen versuche ich nicht allzu schnell zu urteilen und alle Probleme ernst zu nehmen. Selbst wenn ich es oft nicht verstehe, warum das für den anderen Menschen grade so wichtig ist und mir bei mir denke, dass das doch alles halb so wild ist und dass derjenige froh sein sollte, dass "nur" das sein Problem ist... ich versuche mich reinzufühlen, zu verstehen, wieso das grade so existenziell und wichtig scheint und versuche dann auch zu helfen wo ich kann. Auch wenn es mich zugegebener Maßen schon manchmal frustriert über was man sich alles aufregen kann.

      Allerdings kann ich von mir auch nicht behaupten, meine eigenen Themen schon komplett bearbeitet zu haben, aber ich weiß auch nicht ob sich das ändern wird.
      Sie schenkten ihr neue und herrliche Namen,
      Doch es ist schon lange her,
      Das Menschen zu uns nach Phantasien kamen,
      Sie wissen den Weg nicht mehr.

      (Die unendliche Geschichte)
      Huhu,

      auch ich kann deine Aussagen teilweise nachvollziehen.
      Mich begleitet meine Vergangenheit auch immer in dem Sinne dass sie einige meiner Schwächen (z.b. verdrängen, hart zu mir sein), als auch Stärken (Dinge einfach akzeptieren, vorwärts schauen, das gute sehen und auch hart zu mir sein) geprägt hat.

      Zum Teil frustriert mich das Denken anderer schon stark. Ich denke bei Problemen anderer häufig “du hast Option a, b, oder c. entscheid dich für eine und zieh es durch“.
      Und ich denke häufig “mein gott, dasleben ist nunmal so. man kann nicht alles haben und es passieren immer wieder blöde sachen.“
      was das angeht, ich weiss nicht ob ich da richtig denke. diese gedankenkommen mir auch nicht bei menschen, dieeben mal ein problem haben und damit hadern, sondernbei menschen, die jeglichen lösungsvorschlag abweisen. meine persönliche konsequenz ist mich da eher zurückzuziehen, mangels idee was ich noch sagen oder tun könnte.
      ist ein thema (also in mir) was mir im forum häufig begegnet.
      Ich kann das ebenfalls nachvollziehen.
      Aber vielleicht steckt deine Kollegin ja auch in der Phase, in der du damals warst?
      Vielen Menschen sieht man auch beruflich nicht an, dass es ihnen schlecht geht.

      Ich studiere, jobbe und bin momentan im Praktikum.
      Nie würde jemand von mir denken, dass ich depressiv bin und mich selbst verletze.

      Bei mir ist es zum Beispiel so, dass ich im sozialen Bereich jobbe und die Menschen dadurch gerade nachvollziehen kann, weil ich in diesen Abgründen auch einst war, bzw. weiß wie es sich anfühlt.
      hej oceangypsy,

      mir geht es ganz ähnlich wie dir, vielleicht mit dem kleinen unterschied, dass ich versuche alle menschen ernst zu nehmen und auch verständnis zu zeigen für probleme, die für mich jetzt keine wären. wir sind ja alle unterschiedlich - und letztlich sind auch meine probleme, auch die, die mich in meinem leben ernsthaft und lange beeinträchtigt haben, pillepalle zb gegen jemanden, der in einem der ärmsten länder der welt aufwächst - oder in einem land, wo frauen keine rechte haben oder oder oder.

      und um deine frage zu beantworten: ich glaube, das bleibt immer teil der persönlichkeit. und ich persönlich finde das auch gut. ich bemühe mich, andere und ihre situation nicht zu bewerten (denn das steht eigentlich niemandem zu) sondern zu verstehen, wie sie es gerade empfinden, und ansonsten bin ich einfach nur zutiefst froh, dass es mir inzwischen gut geht, ich stabil bin und mich vieles viel weniger belastet als andere.

      lg
      solaine
      "But isn't that life for us all? Trusting to luck?"
      "You can always try to give luck a helping hand", she said.
      //william boyd//


      Ich denke, man bewertet oder beurteilt andere auch ein Stück weit, mit was für moralischen Wertvorstellungen man selbst erzogen wurde oder was man erlebt hat.
      Wenn es jemanden mit psychischen Problemen gibt und man hatte selbst welche, kann man sich entweder total in den hinein versetzen oder man versucht sich abzugrenzen.
      Wenn jemand seit frühester Kindheit eingeredet bekommt von den Eltern, dass Arbeit krank macht und es einfacher ohne Arbeit geht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man selbst Hartz 4 empfängt usw.
      Hallo OceanGypsy und willkommen hier im Forum,

      OceanGypsy schrieb:

      Ich frage mich manchmal, ob man dieses Bewusstsein, was man durchgemacht (und auch erreicht) hat jemals los wird oder ob es für immer ein Teil der Persönlichkeit bleiben wird?!

      Ich finde die Frage nicht sinnvoll. Wichtig ist doch nicht, ob "man" das jemals loswird, sondern ob du das jemals loswirst. Und da du dies fragst ürde ich weiterfragen: Belastet dich das, willst du es denn loswerden? Ich persönlich bin der Meinung, dass Erlebtes und Erfahrenes immer irgendwie Teil der Persönlichkeit sein wird (und die Ergebnisse der letzten Jahre in der Epigenetik weisen ja auch stark darauf hin). Aber wie es einen prägt, ich glaube, das hat man zu großen Teilen selber in der Hand. Du hast doch in einigen Dingen sehr viel Positives aus deinen Problemen gemacht. Du sagst, dass du nicht jammerst, dass du dankbarer lebst - das ist doch klasse. Und wie du gegenüber Menschen umgehst, die da anders sind, ich denke, das hast du auch in der Hand.

      Ich würde mich fragen, welcher Anteil da von dir kommt, was du da aus deiner Situation auf andere überträgst. Könnte es vielleicht sein dass du - auch wenn du hier sehr positiv darüber sprichst und deine Vergagenheit angenommen zu haben scheinst - noch Trauer empfindest? Dass daraus ein gewisser Neid resultiert? Vielleicht fehlt es dir, dir auch mal selber erlauben zu dürfen, zu jammern? Niemand kann immer stark sein und das ist auch vollkommen ok so. Vielleicht zeigt sich in deiner Härte gegenüber anderen Menschen letztlich nur eine Härte gegenüber dir selbst, die du vielleicht ja auch gebraucht hast, um zu überleben, die sich aber jetzt im sozialen Bereich als schwierig erweisen könnte. Und die dir selbst vielleicht nicht gut tut. Das ist reine Spekulation, aber der gedanke kam mir.

      Vielleicht hilft dir auch ein allgemeiner Blick auf dein Menschenbild. Wie möchtest du sein? Willst du ein Mensch sein, der auf andere herabschaut, die nicht das selbe erreicht haben wie er? Ich persönlich finde das nicht gut, wenn du das möchtest, steht es dir aber frei. Ich vermute jedoch eher, dass du möchtest, dass deine Kämpfe anerkannt werden und dass dir jemand erlaubt, auch mal schwach sein zu dürfen. Aber das kannst letztlich nur du selber tun.

      Falls das so klingt, als wäre ich der Meinung das sei alles so leicht: Ich weiß sehr gut, dass es nicht so ist. Aber es ist machbar und man ist meiner Meinung nach nicht grundsätzlich wehrlos seinen genetischen oder sozialen oder kulturellen oderoderoder Umständen ausgeliefert. Oder um es mit Sartre zu sagen: Der Mensch ist das, wozu er sich macht.

      Liebe Grüße,
      Fylgja