Wann fühle ich mich wieder "normal"?

      Wann fühle ich mich wieder "normal"?

      Halllo ihr Lieben :)

      Ihr bräuchte mal eure Erfahrungen oder Meinungen.

      Und zwar frage ich mich in letzter Zeit sehr oft, ob ich überhaupt noch in der Lage bin, mich "normal" zu fühlen. Seit ich denken kann, habe ich depressive Episoden, dann die Selbstverletzung, die ES, die Zwänge. Seit Jahren mache ich Therapien, ambulant, zwischendurch wieder stationär. Mein Studium nähert sich dem Ende und ich habe mich seit ich ca. 17 oder 18 bin gefühlt nur mit dem Krieg gegen mich selbst und dem Versuch, diesen zu beenden beschäftigt. Während der ganzen Zeit ist mein Leben weiter gegangen, aber ich war mit was anderem beschäftigt. Wenn ich auf die Zeit zurückschaue, merke ich, wie viel ich in Bezug auf meine Probleme erreicht habe, verstanden, in den Griff bekommen. Es geht mir besser, würde ich sagen, wenn ich es von außen betrachte, oder eher: Es sollte mir besser gehen. Aber ich kann es nicht fühlen. Es gibt keinen Tag, an dem ich aufstehe und nicht denke "Pass auf, dass du den Tag heute überstehst."

      Ich kann das nur schwer beschreiben. Es ist als wäre ich dauernd auf der Hut vor dem Gefühl oder Ereignis, das mich psychisch wieder so durcheinander bringt, dass ich doch wieder auf SV oder sonstiges zurückgreife oder einfach innerlich zusammenbreche. Ich warte förmlich darauf und fast alles, was ich tue, tue ich mit der Motivation, diesen Moment hinauszuzögern, zu Verdrängen oder zu vermeiden.
      Manchmal greife ich auf symptomatisches Verhalten, v.a. gestörtes Essverhalten, zurück und habe das Gefühl, dass ich es nur tue, um "es hinter mir zu haben".
      Es fühlt sich nicht gut an. Ich bin ständig auf der Flucht. Mein Alltag funktioniert, mein Leben ist irgendwie wieder sehr gewöhnlich, aber ich komme nicht mit, weil sich nichts normal anfühlt.
      Ich habe Angst, dass es so bleibt, dass das vielleicht der beste Zustand ist, den ich erreichen kann.

      Mir ist bewusst, dass sich da vielleicht nicht richtig was zu sagen lässt, weil es ein bisschen schwammig ist.
      Aber kennt jemand das? Habt ihr Erfahrung damit gemacht, ob es weggeht? Oder habt ihr eine Idee, was ich dagegen tun könnte oder was ich vielleicht übersehe?

      Für in paar Gedanken dazu wäre ich sehr dankbar.

      Viele Grüße,
      Granul
      It is possible to commit no error and still lose. That is not a weakness... that is life. (Jean-Luc Picard)
      Hallo Granul,
      ich weiß nicht, ob meine Gedanken, meine Zeilen deine Erwartungen treffen, aber …

      wie du schreibst, kämpfst du schon eine gefühlte Ewigkeit, gegen etwas an. Du hast viele Phasen der Depression, verschiedene Störungen und Zwänge in deinem bisherigen Leben teils stationär, teils ambulant bearbeitet. Das klingt nach einem langen mühsamen Weg, den du bis heute hinter dich gebracht hast. Aber wie es scheint, hast du parallel doch ein „gewisses normales“ Leben geführt; du hast z.B. studiert und stehst kurz vor einem bedeutsamen Meilenstein: der Abschluss deines Studiums. Lässt man die ersten Zeilen weg, so könnte man sagen: ist doch alles ganz normal. Und doch beschreibst du dein Leben seit deiner Jugend als „Kampf gegen dich selbst.“ Ein harter Weg, den du bislang zurückgelegt hast.

      Spontan kam mir beim Lesen deiner Zeilen ein verrückter Gedanke. Ich muss sagen, er erscheint mir gar nicht so verrückt, weil auch ich diesen Gedanken oft denke. Was ist, wenn du eines Morgens aufwachst, und alle diese Gefühle für dich und dein Leben sind da? Wenn du plötzlich das Gefühl in dir spürst, du musst nicht mehr weglaufen. Du bist angekommen – bei dir angekommen.

      Ich glaube, diesen Gedanken für sich zu realisieren, seine Tragweite für dich und dein Leben zu begreifen, haut einen um. Wenn ich für mich diesen Gedanken denke und versuche, mich ganz vorsichtig heran zu fühlen, tauchen da ganz große und heftige Fragen auf.

      Da sind dann Fragen wie: wer bin ich dann, wenn ich diese bis dahin gelebten Phasen nicht mehr habe, wenn sie weg sind? Weggeblasen? Als Erstes könntest du sofort sagen: ja das will ich ja. Hab ich auch so gesagt und würde es auch heute so sagen. Aber waren es nicht auch gerade diese Probleme, dieser Kampf, diese Schwierigkeiten, die mich ausgemacht haben? Wer bin ich, wenn die plötzlich weg sind? Gefühlt tut sich da für mich ein undefiniertes Loch auf. Es ist alles Bisherige in Frage gestellt. Ich meine jetzt nicht die Ausbildung oder so. Aber selbst die könnte plötzlich mit Fragezeichen auftauchen. Was dann?

      Ich versuche mir immer wieder vorzustellen, wie Menschen auf mich zugehen und mich begrüßen. Wen begrüßen sie? In deinem Fall die „alte und bekannte“ Granul, oder eine Unbekannte.

      Dieses Nichtwissen, dieses Nichtvorstellen können, könnte es das sein, was da den letzten Schritt blockiert? Solch ein Schritt in die Ungewissheit ist bei mir mit Angst begleitet, denn ich stelle ja alles Bisherige in Frage. Und irgendwie ist es wie ein Aufbruch in ein unbekanntes Land. Was werde ich vorfinden? Welche Herausforderungen muss ich bewältigen? Wer wird mir zur Seite stehen, oder fühle ich mich allein? Das sind alles Fragen, die den Grad unserer Unsicherheit und unserer Urängste für mich ausdrücken.

      Und dann bleibt die Frage: was will ich? Fühle ich mich sicherer und ein Stück weit „besser“ bei dem, was ich habe, auch wenn es sich spürbar schlecht anfühlt und immer mit dieser Ungewissheit droht?

      Was wäre, wenn ich in mir den Mut finde, den Schritt weiter zu gehen, darauf vertrauend, dass ich schon so viele Phasen gemeistert habe, so viele Kämpfe gewonnen habe. Es war schwer und sehr anstrengend.

      Als ich mal eine sehr anstrengende Bergtour geplant hatte und vorhatte, habe ich mich immer mit einem Bild motiviert durchzuhalten: ich sah mich, wie ich, kaputt, müde, durstig, die letzten Schritte extrem schwer fallend, das Ziel erreicht habe. 12 Stunden Plagerei und Kampf – auch Kampf gegen mich und den Wunsch, einfach aufzugeben – ich habe ihn gewonnen. Ich kann dir dieses Gefühl nicht mit Worten beschreiben. Ich konnte nicht reden. Aber ich glaube, dass auch dich dieses Gefühl erwarten könnte. Neben allen Ängsten und Zweifeln, neben allen Kämpfen und Strapazen ist es eben dieses Gefühl: du bist bei dir angekommen, du hast es geschafft.

      Lg Elfenspiegel
      Liebe Granul,

      auch ich kenne dieses Gefühl sehr gut. Es ist nicht mehr so stark wie bei dir, dieses ständig auf der Hut sein ist nur noch phasenweise. Wenn es da ist, dann ist es aber sehr stark.
      Mittlerweile bin auch ich seit 15 Jahren mit psychischen Problemen beschäftigt, also die Hälfte meines Lebens. Was mir hilft, ist es - wie du das ja auch schon tust - zu sehen, was sich positiv verändert hat. Vielleicht kannst du dir das noch stärker sichtbar machen? ich schreibe sowas gerne auf oder male mir ein Bild dazu und hänge es auf. Dass du Angst hast davor hast, wieder auf destruktive Muster zurückzugreifen ist nur zu verständlich. Ich habe mal gelernt, mir eine Liste an Gegenmaßnahmen zu machen. Eine Art Notfallplan mit verschiedenen Stufen. Da trage ich meine Fähigkeiten ein und auch, was ich schon gemeistert hab. Ich denke, dass man bei jeder schlechten Phase vor allem eines merkt: Es ging immer wieder weiter, man kam da auch wieder raus. Was hat dir geholfen? Welche Maßnahmen könntest du ergreifen, wenn du merkst, dass es wieder schlimmer wird? Das gibt mir Halt. Und auch ein festes soziales Netz zu haben. Freunde/innen, auf die ich mich verlassen kann, eine gute Beziehung zur Familie zu pflegen und zuverlässige Ärztinnen zu haben. Ich bin zum Glück noch in Therapie, auch das gibt mir halt. Aber im Bedarfsfall könnte ich, wenn die Therapie zu Ende ist, ja immer noch in eine Beratungsstelle und dort ein paar Termine mit einem/r Psychologen/in haben.

      Und dann finde ich noch ganz wichtig: Was ist "normal"? Was bedeutet "gesund"? Ich werde die N*rb*n immer haben und ich werde sicher auch nie vergessen, wie es ist, destruktive Impulse zu haben. Aber es gibt kein zurück zu dem "bevor das so war". Das ist eine völlig andere Person, und die möchte ich auch nicht mehr sein. Es ist leicht gesagt, das als Teil von sich zu akzeptieren, aber für mich funktioniert es nunmal so. Das alles macht mich eben auch zu einem Stück weit zu der Person, die ich bin. Meine Therapeutin sagt immer wieder, dass ich der einzige Mensch bin, der bis zu meinem Lebensende bei mir sein wird. Ich sollte also aufhören, vor mir wegzurennen. Ich kann das sowieso nicht, ich nehme mich ja überall mit hin. Stattdessen sollte ich akzeptieren, wer ich bin - eben auch mit den Dingen, die mir nicht gefallen. Und immer, wenn mir das in einem kleinen Bereich gelingt (im Moment zum Beispiel, dass ich eine sehr rechthaberische Person bin), dann wird es ein wenig besser und das Gefühl und Verhalten nimmt ab. Es kostet einfach viel zu viel Kraft, immer nur wegzurennen. Damit will ich auf gar keinen Fall sagen, dass man sich stattdessen wieder der Destruktivität hingeben soll. Aber lernen anzuerkennen, dass diese Gefühle da sind.

      Ich weiß, dass das alles keine sehr praktischen Tipps sind und dass es vielleicht nicht Mut macht, wenn ich sage, dass manches sicher bleiben wird (für mich zumindest). Auch ich möchte oft hinschmeißen und verfluche oft, dass ich so bin und mit diesen Dingen zu kämpfen habe. Aber das bin nunmal ich und ich habe nur mich. Und ich lerne, und will weiter lernen, das auszuhalten und auch darauf zu vertrauen, dass ich das schaffen kann und dass ich in ganz vielem schon fest auf meinen eigenen Beinen stehen kann und mich da auf mich verlassen kann. Und so wie du das Studium beschreibst, was du trotz allem gemeistert hast, ist es doch auch bei dir der Fall, dass du viele Kompetenzen im Leben hast, auf die du dich verlassen kannst.
      Es wird vielleicht Momente in meinem Leben geben, in denen ich den Halt wieder verliere. Ich glaube nicht, dass es im Leben Sicherheiten gibt. Das ist doch ein generelles Problem der Menschheit, immer im Unsicheren zu sein. Deswegen denke ich, dass das Gefühl auch nie ganz weggehen wird. Aber das ist eben auch etwas, was uns ausmacht.

      Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt an dir vorbei geschrieben habe, aber ich wollte dir unbedingt antworten und lasse das jetzt trotzdem so, auch wenn nicht ganz klar ist, was ich meine.

      Liebe Grüße
      Fylgja
      Vielen Dank für eure Antworten!

      Elfenspiegel, danke, dein Text hat mir wirklich gut vor Augen geführt, was ich glaube ich gerne versuche zu vergessen. Vielleicht ist es genau das, nämlich, dass ich irgendwie nach wie vor Angst habe, was kommt, wenn ich nicht mehr wegrenne. Wie du sagt, auf einmal ist man selbst ein undefiniertes Loch.
      Ich habe Pläne für mein Leben, ich weiß, wo ich nach dem Abschluss arbeiten und wie ich meine Freizeit verbringen möchte. Ich fühle es nur irgendwie nicht. Es ist ein kognitiver Plan, aber ein Gefühl dazu wahrzunehmen oder zu benennen kriege ich nicht hin.
      Irgendwie weiß nicht, ob mir das reicht und ob mich das geplante Leben genug ausfüllt, um die ganzen negativen Gefühle aufzugeben, die wenigstens Gefühle waren, wenn ich zu meiner Zukunft so wenig fühle.

      Elfenspiegel schrieb:

      Dieses Nichtwissen, dieses Nichtvorstellen können, könnte es das sein, was da den letzten Schritt blockiert? Solch ein Schritt in die Ungewissheit ist bei mir mit Angst begleitet, denn ich stelle ja alles Bisherige in Frage.


      Wahrscheinlich hast du Recht, dass es auch bei mir ganz viel Angst ist, denn ich neige zum Rationalisieren, wenn ich Angst habe. Und ich glaube, dass Unsicherheit eins der Ding ist, die mir am meisten Angst machen.

      Aber wie stelle ich mich der Angst? Ich nehme es mir oft vor, will es wirklich, aber dann stehe ich ratlos da, und denke, dass doch eigentlich alles normal ist, mein Leben sieht doch so normal aus.

      Elfenspiegel schrieb:

      Ich versuche mir immer wieder vorzustellen, wie Menschen auf mich zugehen und mich begrüßen. Wen begrüßen sie? In deinem Fall die „alte und bekannte“ Granul, oder eine Unbekannte.


      Diese Vorstellung beschäftigt mich. Jedenfalls muss ich da nochmal länger drüber nachdenken, vielleicht hilft diese Vorstellung "von außen" wirklich dabei.
      Hilft es dir, in klareres Bild von dir ohne Probleme zu bekommen?


      Fylgja, danke auch dir für deine Antwort. Eigentlich hast du mir eher Mut gemacht, denn du schreibst, dass das Gefühl bei dir seltener geworden ist.

      Fylgja schrieb:

      Ich werde die N*rb*n immer haben und ich werde sicher auch nie vergessen, wie es ist, destruktive Impulse zu haben. Aber es gibt kein zurück zu dem "bevor das so war".


      Es ist seltsam, denn mir ist bewusst, dass die Narben bleiben werden, und ich sage mir auch, dass ich weiß, dass ich nie mehr ein völlig unkompliziertes Verhältnis zum Essen haben werde. Aber trotzdem habe ich heimlich immer die Vorstellung davon, "wieder wie früher" zu sein.
      So bewusst habe ich da noch nie drüber nachgedacht, aber ich glaube, dass ich vielleicht unterbewusst wirklich noch die lineare Vorstellung habe, dass mein früheres Ich krank geworden ist und es nur die Krankheit ablegen muss, um wieder so zu sein wie vorher. (Ehrlich gesagt fühle ich mich gerade ganz schön naiv, denn natürlich weiß ich, dass das nicht stimmt, aber trotzdem fühlt es sich an, als sei es gerade zum ersten mal auch ein Stück ins Gefühl gedrungen)
      Ich glaube, es hat tatsächlich nicht unmittelbar mit dem zu tun, was ich meine, aber es ist trotzdem sehr hilfreich ;) Denn ich möchte auch nicht mehr die Person von früher sein. Abgesehen davon, dass sie natürlich ein Kind war, konnte sie mit vielem nicht so umgehen, wie ich es auf die harte Tour habe lernen müssen.

      Eine Sache, über die ich auch schon länger nachdenke ist, dass ich wie gesagt insgesamt den Eindruck habe, wenig situationsbezogen zu fühlen, vielleicht auch deshalb schneller auf bekanntes zurückgreife, auch wenn es destruktiv ist, denn immerhin weiß ich, wie ich mich danach fühle (nämlich schlecht).
      Ich war im Rahmen der ES sportsüchtig, das habe ich ebenfalls mühsam in den Griff bekommen, aber die Erinnerung an dieses intensive Gefühl habe ich noch sehr deutlich. Es heißt zwar manchmal, dass endogene Endorphine niemals eine so starke Wirkung haben können. Aber ich frage mich, ob das, dass ich mir distanziert vorkomme, nicht nur daher kommt, dass ich denke, ich muss aufpassen, nichts dummes zu tun, sondern auch damit, dass sich nichts so intensiv anfühlt wie bei 35 Grad x Zeit zu rennen.


      Entschuldigt, dass es gerade am Ende etwas wirr geworden ist. Mir fällt es echt schwer, das alles in Worte zu fassen.
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