Stimming

      Liebe Fories,

      hier bin ich wieder, schlehe, dieses Jahr werde ich 9 Jahre clean sein. Ich hatte all die Jahre immer noch die ganze Zeit sehr viel Verlangen, mich zu v*rl*tz*n und war sehr nah dran, viele Male, pure Willenskraft hat mir sehr häufig als einziges geholfen. Ich habe vieles nie verstanden, vieles hat nie gepasst, und vor wenigen Wochen habe ich etwas dazugelernt, das mir sehr viel erklärt hat.

      Irgendwann habe ich also darüber nachgedacht, welche eigentlich meine effektivsten Skills sind und gleichzeitig bin ich über eine queere Community zum ersten Mal in meinem Leben mehr mit neurodiversen und autistischen Menschen in Kontakt gekommen, von denen ich viel gelernt habe. U.a. habe ich viel zu Stimming gelernt. Stimming bezeichnet natürliche Bewegungen und andere Handlungen von Menschen (häufig Autist:innen), die für sie absolut notwendig sind, ihnen gut tun, sie sind auch Selbstausdruck und Kommunikation. Typische Beispiele sind (rhythmische) Bewegungen, Flapping mit den Händen, Fidgeting, Aussprechen oder Nachsprechen mancher Wörter oder Silben, angenehme Konsistenzen fühlen, in Lichter schauen, und vieles mehr.

      Ich habe in mich hineingefühlt und mir wurde klar, dass ich dieses Bedürfnis so gut kenne und mir erlaubt, es nicht mehr zu unterdrücken. Und realisiert, dass ich das den allergrößten Teil meines Lebens getan habe. Ich hüpfe, ich wippe, ich kaue auf Babyspielzeug, ich kann stundenlang bestimmte Konsistenzen fühlen, ich schnipse rhythmisch, ich flappe mit meinen Händen, ganz doll, ich sage "ke" vor mich hin, ich wickle mich so eng wie möglich in Tücher, ich tue all diese Dinge, und sie sind gut und natürlich und genau so, wie sie sein sollen.

      Und ich habe all die Jahre gedacht, dass es nur eine einzige Sache in der Welt geben müsste, die effektiver und besser wirken würde als SvV, nur eine, und es wäre plötzlich alles so viel leichter. Und jetzt kenne ich so viele. Schm*rz ist keiner meiner Stims. Dass Skills mir nie wirklich geholfen haben, liegt an ihrem für mich völlig falschen Ansatz, z.B., dass sie gelernt werden müssen (ich mache all das vollkommen natürlich), dass man sie bewusst einsetzen muss, und dass viele an sich Probleme adressieren, die ich nie hatte. Aggression oder Wut war nie eins meiner Probleme, genauso wenig habe ich mich aus Traurigkeit v*rl*tzt. Ablenkung ist auch nicht die richtige Lösung. Stims bewirken Hinlenkung auf den richtigen sensorischen Input. Ein anderes Konzept, das mich in die Irre geführt hat, ist die Idee von Anspannung. Anspannung habe ich das Gefühl auch genannt, dass dazu führt, dass ich mich v*rl*tzt habe. Und dieses Wort ist keine gute Bezeichnung dafür, denn es ist sehr unspezifisch. Leute, die eine "andere Art" von Anspannung als andere empfinden, würde das nicht auffallen. So wie mir. Dann gibt es noch die unhinterfragte Grundannahme, dass emotionale Probleme die Grundlage von allem SvV sind. Bei mir haben jedoch vor allem in den letzten Jahren häufig sensorische Probleme zu diesem Bedürfnis geführt.

      Ja, ich hatte früher auch emotionale Probleme. Vieles davon ist mir heute so viel klarer. Die fehlende emotionale Zuwendung durch meine Eltern, die sich noch dazu ständig gestritten haben, die krasse Unterforderung in der Schule, die ständige Reizüberflutung, ein untherapiertes Trauma von anno dazumal, das sich alleine und weird fühlen (das ich mittlerweile auch erklären kann). Doch nichts davon war die Ursache dafür, dass es mir auch jetzt, 10 Jahre später, häufig immer noch so schlecht ging (außer der Unterforderung, die wird mich wohl lebenslang begleiten).

      Stimming unterdrücken ist fatal. Es ist ein Grundbedürfnis, und es führt zu rebound, wenn es unterdrückt wird, und genau das habe ich getan, und genau dazu hat es geführt. Ich gehe davon aus, dass ich dieses Bedürfnis immer schon hatte und mir fallen ein paar Beispiele ein, aber den größten Teil der Zeit war mir die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz solcher Verhaltensweisen viel zu bewusst, selbst schon als Kind. Jetzt, wo ich mir erlaube, das zu tun, was ich tun will und muss, auch wenn es seltsam aussieht, geht es mir gut. Es geht mir, ehrlich gesagt, um einiges besser.

      Ich hatte damals schon ein paar Ansätze, die in die richtige Richtung gingen. Manche meiner Skills hatten taktile Komponenten, aber mein "Fehler" damals war, dass ich sie viel zu kurz gemacht habe, nur, bis sie gerade so geholfen haben. Mein eigentliches Bedürfnis geht eher in die Richtung von stundenlang.

      Ich war zwei Jahre in Therapie, ohne dass dieser Gedanke ein einziges Mal aufkam, und ich bin verwirrt, dass dieser Zusammenhang in diesem Forum hier so unbekannt ist. Ungesundes Stimming ist gängig, und nicht wenige autistische Personen werden sogar mit BPD fehldiagnostiziert, bevor sie realisieren, dass sie eigentlich autistisch sind.

      Ich weiß nicht, ob ich Autistin bin, und es ist mir egal. Ich weiß, dass ich sensorisch anders bin als viele Leute, ich wusste schon lange, dass ich hochsensibel bin, und jetzt weiß ich, dass mir nicht nur bestimmter Input zu viel wird, sondern auch bestimmter fehlender anderer Input zu wenig wird.

      Das wollte ich für euch und mich selbst aufschreiben. Falls jemensch dazu Anmerkungen oder Fragen hat, sehr gerne, ich bin wirklich nicht mehr so oft hier, werde sie aber lesen und beantworten. Ich wünsch euch allen weiterhin alles Liebe und Gute :)

      Liebe Grüße
      schlehe
      hej schlehe,

      ich will dir vor allem für diesen wirklich tollen input danken. es ist für mich gerade eine sehr wichtige und sehr gute erkenntnis, nicht meinetwegen, aber es passt zu dem gefühl, das ich bei bestimmten "verhaltensweisen" von anderen schon immer hatte und nie erklären konnte. ich sehe/erlebe sowas "öfter" und bin damit total klar, sprich es irritiert mich nicht wirklich und ich finde es okay, weil ich irgendwie immer das gefühl hatte, das passt zu den jeweiligen leuten und ist für sie stimmig (ohne n ;) ), und dann kommt auch kein "übergriffiges" gefühl bei mir an, also die tun das nicht um zu nerven oder so. ich war immer sehr verwundert darüber, warum andere um mich herum dieses "stimming" teilweise so irritierend und abstoßend fanden. jetzt hab ich gerade was kapiert: scheinbar bin ich selbst doch "seltsam" genug, um ein gutes bauchgefühl dafür zu haben, dass das was hilfreiches und nichts störendes ist, und das haben andere eben weniger.

      wenn das für dich okay ist, würde ich den thread gerne im skillthread mit verlinken.

      danke nochmal :)
      viele grüße,
      solaine
      "But isn't that life for us all? Trusting to luck?"
      "You can always try to give luck a helping hand", she said.
      //william boyd//


      Hallo schlehe,

      ich hab über Stimming im Zusammenhang mit SVV noch gar nicht nachgedacht, aber fand deinen Beitrag dazu sehr spannend.

      Ich hab irgendwann festgestellt, dass einige Sachen die ich schon immer mache, Stimming sind. Das kommt wohl auch bei ADHS öfter vor. Ich kann zB nicht ruhig sitzen, konnte ich noch nie und als Kind hab ich auch öfter ärger deswegen bekommen, aber es ist einfach total entspannend für mich mit meinem Fuß herum zu wackeln (und die meisten Leute nehmen immer an, dass ich nervös bin, wenn ich das mach. Dabei kann ich das nur machen, wenn ich mich wohl fühle) Find es auch total angenehm dass ich zumindest zuhause herum zappeln kann wie ich will :D und auf Sachen herum kauen find ich super, kennst du so Kau-Halsketten?

      LG Nellie
      Vielen Dank für eure Antworten!

      Hey solaine,
      finde deine Antwort total schön und es freut mich, dass du das jetzt besser zuordnen kannst. :)
      Verlinke gerne im Skillthread!

      Hey Nellie,
      ja, ADHS/ADS-Leute finden Stimming häufig auch sehr gut :)

      Wenn du dir mehr Gedanken über den Zusammenhang mit SvV machen willst, vielleicht helfen folgende Fragen:
      - Wenn du eine Zeit lang nicht stimmen kannst, steigt dann der SvV-Druck?
      - Wenn du (zeitlich ausreichend und vielleicht auch alleine) stimmst, wird der dann wieder besser?
      - Sind deine wirksamsten Skills nah dran an deinen Stims?
      - Insbesondere, sind Stims/Skills dabei, die Input über die Haut oder Druck auf den Körper geben? (Das Bedürfnis nach Druck auf den Körper ist z.B. bei Autist*innen recht häufig.)
      - [allgemeiner] Was an deinen bestwirksamsten Skills ist eigentlich der jeweils wirksame Bestandteil?
      - Steigt der SvV-Druck, wenn du in einer für deine Neurodiversität ungünstigen Umgebung bist? (Ich bin zum Beispiel hochsensibel bzw. fraglich Sensory Processory Disorder, und Reizüberflutung führt da bei mir fast immer zu SvV-Druck, vor allem, wenn ich nicht stimmen darf.)

      Auf Sachen herumkauen finde ich auch gut! So eine Beiß-Halskette hatte ich mir mal bestellt, fand sie aber zu hart - ich konnte nicht so richtig reinbeißen, das war dann nicht so wirkungsvoll. In Drogeriemärkten gibt es so Gummiringe und ähnliches für zahnende Kleinkinder, die etwas weicher sind, die mag ich dafür sehr gerne.

      Ja, neurotypische Menschen gehen häufig davon aus, dass Nervosität (wahlweise sogar Langweile...) zu Grunde liegt - das ist auch meine Erfahrung, aber das ist bei mir auch nicht der Fall. Ich bin gerade dabei, Menschen in meinem Umfeld zu erklären, wie was eigentlich gedeutet werden sollte. :)

      Liebe Grüße
      schlehe